Cranger Kirmes
Wenn wir sie nicht hätten, müsste man sie erfinden
Zehn Tage im Jahr ist Wanne-Eickel der Nabel der Welt. Na ja, fast! Schließlich gibt es immer im August und immer in Crange den größten Rummel weit und breit. In Deutschland ist uns nur noch das Münchener Oktoberfest über. Aber das dauert ja auch länger und das Gelände der Wies’n ist fünfmal so groß wie der Festplatz auf Crange. Weit über 400 Betriebe muss uns auch erst mal jemand nachmachen (okay ihr Münchener, ihr habt noch ein paar mehr – aber sonst?). Einen ganzen Tag auf Crange zu verbringen ohne eine Minute Langeweile zu haben, ist absolut kein Kunststück - es kostet nur ein kleines Vermögen. Aber man muss ja auch nicht jedes Fahrgeschäft ausprobieren und an jedem Pavillon ein Bier trinken. Die Cranger Kirmes macht auch viel Spaß, wenn man nur bummelt und guckt.
An jedem ersten Freitag im August beginnt Crange-Time. Zehn Tage lang leben dann die Anwohner in einer Art Ausnahmezustand. Zartbesaitete fahren weit weg in den Urlaub oder quartieren sich bei Freunden außerhalb Cranges ein. Wer bleibt, muss hart im Nehmen sein: Wildfremde Menschen parken im Vorgarten, riesige Buden verdunkeln das Wohnzimmerfenster, permanenter Lärm und intensive Gerüche dringen durch jede Ritze und gelegentlich liegt auch mal eine Person im Hauseingang, die dort definitiv nicht hingehört.
Alle anderen Wanne-Eickeler lieben es, auf Crange zu gehen. Zehn Tage lang Party (wenn man will), trotzdem zu Hause, ganz viel Besuch von außerhalb, sogar das Fernsehen ist ab und zu dabei. Jeden Tag strömen über 400.000 Besucher nach Wanne-Eickel, Zehntausende von Autos drängen in den ansonsten eher verschlafenen Norden Wanne-Eickels, und wenn’s der Polizei zu viele werden, macht sie kurzerhand eine Autobahnabfahrt dicht.
Natürlich wollen auch möglichst alle Schausteller nach Crange, und alle Gastronomen aus der näheren Umgebung sowieso. Was natürlich nicht geht, denn viel mehr als 450 Schau-, Aus- und Aufsteller passen nun mal nicht auf den Platz. Früher hatte die Firma Schwing immer noch etwas von ihrem Areal abgegeben, heute frisst sich die Kirmes weiter nach Westen, wofür mehr und mehr Teile des Sandbergs am Kanal abgetragen wurden.
Trotzdem reicht der Platz bei weitem nicht, also muss er verteilt werden. Das ist die große Stunde der Kirmes-Sheriffs. Unter dieser Bezeichnung kennt man seit Jahren die Ordnungsamtsleiter, die für die Platzvergabe verantwortlich sind und den ordnungsgemäßen Verlauf der Kirmes überwachen. Sie entscheiden, wer auf den Platz darf und wer nicht. Mit einem komplizierten Bewertungssystem prüfen sie die Crange-Tauglichkeit der Bewerber. Attraktionen und Neuigkeiten bekommen ebenso Pluspunkte wie Tradition oder Originalität eines Fahrgeschäfts oder eines Standes. Bei einem Dreifachlooping fällt die Entscheidung naturgemäß leichter als bei einer Losbude oder einem Bierstand.
Selbstverständlich sind die Kirmes-Sheriffs wie ihre großen Vorbilder im Western stets unparteiisch und unbestechlich. Ein Bösewicht, wer anderes behauptet! Die abgewiesenen Schausteller protestieren natürlich jedes Jahr, sprechen von Machenschaften oder gar Betrug, ziehen oft vor Gericht und dabei meist den Kürzeren. Die Lokalpresse berichtet regelmäßig darüber, und bisweilen haben die Scharmützel auch echten Unterhaltungswert. Zum Beispiel, wenn ein alteingesessener Wanne-Eickeler Gastwirt seinen Stammplatz und auch sonst keinen auf der Kirmes mehr bekommt, weil sein Bierstand eben so aussieht wie die meisten anderen Bierstände auch. Woraufhin der Wirt einen Mini-Förderturm basteln lässt, den er sich auf das Dach seines Pavillons montiert. Und zack ist er wieder dabei auf Crange. Weil originell.
Jeder junge Wanne-Eickeler durchlebt mehrere Kirmes-Phasen. Da ist zuerst mal die an der Hand der Eltern. Mit Karussellfahren, Losbuden, Ponyreiten, jeder Menge Pommes, Eis und Zuckerwatte. Leuchtende Augen, Stofftier (kostete Papa mehr als 50 Lose), verkorkster Magen, schwere Übelkeit.
Dann kommt der erste Kirmesbesuch ohne Erziehungs- und Aufsichtspersonal, meist mit Klassenkameraden oder Kumpels aus dem Viertel. Mit Schießbuden und allen rasanten Fahrgeschäften, jeder Menge Pommes, Eis und Cola, Schlüsselanhänger, Billigmesser. Leeres Portemonnaie, rebellierender Magen, Gleichgewichtsstörungen.
Reift die Wanne-Eickeler Jugend heran, erweitert sich der Kirmesbesuch auf eine zehntägige Präsenz. Mit sehr viel Rumstehen am Autoscooter (früher an der Raupe), nur noch den härtesten Fahrgeschäften, jeder Menge Pizza, Currywurst, Zigaretten und den Wesen vom anderen Geschlecht. Magenkrämpfe, Herzflimmern, Schwindelgefühl.
Hat der Wanne-Eickeler die Adoleszenz abgeschlossen, zieht es ihn vornehmlich an den Wochenenden nach Crange. Über den Platz schlendern, Fahrgeschäfte gucken, sehr ausgiebiges Rumstehen am Bierstand. Fischbrötchen, Spießbraten, sehr viel Bier – schwere Übelkeit, erhebliche Gleichgewichtsstörungen.
Während die ersten drei Gruppen noch recht einfach für Neues zu begeistern sind, legt die vierte Gruppe Wert auf Konstanz, Verlässlichkeit und am liebsten noch auf eine feste Adresse. Seit Mitte der 1980er Jahre heißt diese Steinmeisters Bierpavillon. Genau genommen sind es mindestens ein halbes Dutzend Pavillons, die zu einer kleinen Bierstand-Stadt aufgebaut werden. Damit hat Bernd Steinmeister in der Addition eindeutig die längste Theke Wanne-Eickels. Und die braucht es auch, denn spätestens ab 22 Uhr sind hier alle versammelt, die zur Szene gehören. Oder vor 30 Jahren gehörten.
Hier trifft man garantiert alle, die jedes Jahr hier stehen, die immer schon hier standen, oder diejenigen, die nur einmal im Jahr nach Wanne-Eickel kommen und vermehrt auch die eigenen Töchter und Söhne. Sofern man in den 1940er, 50er oder 60er Jahren geboren wurde. Sofern man zur Generation der 1980er oder 90er gehört, muss man natürlich damit rechnen, seine Eltern hier zu treffen. Steinmeister ist Kult, obwohl hier eigentlich nichts Besonderes passiert. Das Programm sind die Gäste selbst, und das macht mindestens ebenso viel Spaß wie die Fahrgeschäfte.
Bevor es Steinmeisters Bierpavillon gab, waren mehrere Jahre lang die Hülsmannfässer der zentrale Anlaufpunkt. Sie wurden bei weitem nicht so geliebt und lagen ungünstig in der Einflugschneise an der Dorstener Straße. Vor dem Intermezzo bei den Fässern gab es in den 1960er und 70er Jahren Lahnstein. Der Bierstand der Lahnsteins lag strategisch äußerst günstig neben dem Bayernzelt (Toilettenwagen nahe bei), war ein echter Familienbetrieb und hatte immerhin auch zwei Pavillons und einen kleinen Biergarten.
Wer nach 21 Uhr kam, musste sein Bier in der zweiten oder dritten Reihe trinken, wer zum Pinkeln raus musste, hatte das gleiche Problem. In der Regel mussten die Lahnsteins wegen der frühen Sperrstunde die Zapfhähne hochstellen, während am Stand noch die Hölle los war. Diese setzte sich daraufhin zum Wanner Markt in Bewegung, um im Monopol weiterzumachen. Heute gibt's kein Monopol mehr, was zumindest während der Kirmeszeit nicht tragisch ist, da man bis in die frühen Morgenstunden ja bei Steinmeister abhängen kann.
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