Gedächtnis und Auseinandersetzung

Aus Hist. Verein Herne / Wanne-Eickel
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Zur Geschichte des Gedenkens in Herne und Wanne-Eickel

„Vom ersten Augenblick an“, schreibt der Schriftsteller Imre Kertesz, „haftete dem Holocaust eine entsetzliche Angst an: die Angst vor dem Vergessen.“ Aus dem „unermesslichen Leid“ entstand so eine über Generationen hinweg geführte Debatte, in der bis heute über eine adäquate Erinnerungskultur gestritten wird. Bald wird es keine Überlebenden der Konzentrationslager, keine Zeitzeugen der Verfolgung und Entrechtung während des NS-Regimes mehr geben. Ihre mündlichen und schriftlichen Zeugnisse gehen auf im kulturellen Gedächtnis. Die Debatte über die richtige Art der Erinnerung wird dagegen fortgeführt werden. Dabei ergibt sich aus der Bedeutung der Shoah selbst, verstanden als präzedenzloser Zivilisationsbruch der Geschichte, dass es nicht ein „richtiges“ Gedenken geben kann. Der Streit darüber, an wen oder was öffentlich und der Allgemeinheit zugänglich erinnert wird, ist also auch immer in seinem zeitlichen Kontext zu sehen. Nicht nur national, auch lokal.

Die zweite Schuld

Im September 1949 wurde am Herner Neumarkt das erste Mahnmal zum Gedenken an die Opfer des NS-Regimes eingeweiht, aber bereits zehn Jahre später trug man die großen Quadersteine, auf denen eine Opferschale thronte und eine Bronzeplatte mit den Worten „Die Toten mahnen die Lebenden" eingelassen war, im Zuge der Umgestaltung des Platzes wieder ab. Dafür entstand 1959 die bis heute vorhandene Statue „Zur Ehre und zum Gedenken der Opfer des Widerstandes gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft" - der Schutzgeist des Guten, der sich mit Blitz und Schwert siegreich über die vielköpfige Hydra als Symbol des Bösen zeigt - vor dem Arbeitsamt an der Bebelstraße. Zum 25. Jahrestag der Reichspogromnacht[Anm. 1] am 9. November 1963 enthüllte Oberbürgermeister Robert Brauner, selbst ein Verfolgter des Naziregimes, an der Ecke Hermann-Löns-/Schaeferstraße den Gedenkstein für die 1911 erbaute Herner Synagoge. „Eine Stadt gedenkt voll Trauer und Scham ihrer jüdischen Bürger", titelte die Herner Zeitung.

Umgeben von Menschen, die als Zeitgenossen alle noch biografisch in die Zeit des Nationalsozialismus involviert waren, von der Rolle der indifferenten Zuschauer bis hin zu den Tätern und Opfern der antisemitischen Verfolgung, war selbst im beschaulichen Herne „Erinnerung" stets auch instrumentalisierte „Erinnerungspolitik" und gekoppelt an das Diktat der Zeit: Die Mahnung zur Freiheit und Versöhnung stand im Vordergrund, von „unser aller Untergang in den nachfolgenden Kriegsjahren" war die Rede. Der „Opferbegriff" deckte sich über alles, so dass es kaum einen Unterschied zwischen den Leiden der Soldaten in Stalingrad [Anm. 2] oder den Ermordeten in Auschwitz [Anm. 3] gab. „Hier stand die Synagoge der jüdischen Gemeinde Herne. Sie wurde Opfer des Rassenwahns. Mögen sich solche Untaten nie wiederholen", heißt es auf dem mit einer Bronzeplatte versehenen Findling. Aus heutiger Perspektive eine seltsam verklausulierte Inschrift, die weder Opfer noch Täter benennt und sich rein auf das Gebäude bezieht. Waren in der Synagoge auch Menschen? Wo sind sie hin? Und wie wird man eigentlich vom „Rassenwahn" befallen?

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In der Stadt Wanne-Eickel war man dagegen noch nicht so weit, überhaupt der jüdischen Gemeinde zu gedenken. Erst 13 Jahre später und nach einem immensen Kampf mit der Bürokratie der damals noch eigenständigen Stadt wird im Sportpark Eickel ein Wanner Pendant eingeweiht. „Zum Gedenken an unsere jüdischen Brüder und Schwestern, die in den Jahren 1933-1945 infolge nationalsozialistischen Terrors ums Leben gekommen sind", lautet die Inschrift. Worte, die wohl auch deswegen deutlicher sind, weil sich mit Julius Leeser der ehemalige Vorsitzende der alten Wanner Gemeinde für die Tafel engagierte. „Ich kannte persönlich jedes Kind und jeden Greis dieser Gemeinde, und alle, deren Gedenken ab heute durch dieses Mahnmal geehrt wird, standen mir nahe", bekannte Leeser im September 1976.

Mit diesen beiden Gedenksteinen kam die Erinnerungspolitik auch in Herne erst einmal zum Stillstand. Kein Einzelfall, sondern symbolisch für die Passivität breiter Teile der Gesellschaft, sich mit einer Aufarbeitung der Verbrechen der Vergangenheit beschäftigen zu wollen. 1987 bezichtigte der Schriftsteller Ralph Giordano die Deutschen sogar einer, „zweiten Schuld", der „Vergessensschuld". Die öffentliche Erinnerung blieb zumeist auf „runde Jubiläen" begrenzt. So legte der Stadtrat anlässlich des 50. Jahrestages der Reichspogromnacht 1988 eine Schweigeminute ein. Gleichzeitig begann aber auch eine junge Generation, sich kritisch mit der eigenen Heimatgeschichte zu beschäftigen. Geschichtswerkstätten und Geschichtsinitiativen forschten nach verschütteten Spuren verdrängter Vergangenheit an ihrem Ort und in ihrer Region.

Ab 1989 kam auch die Stadt dem Wunsch nach mehr „Gedenken" nach. Jährlich zum 9. November fand nun eine öffentliche Gedenkveranstaltung vor dem Mahnmal an der Bebelstraße statt. Eine offizielle Verbeugung der Politik, die die wenigen Überlebenden der Shoah und einige Menschen aus dem Widerstand respektvoll entgegen nahmen. Seit Mitte der 1990er Jahre rückt zunehmend der 27. Januar, der Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, als Gedenktag in den Vordergrund. Aber selbst wenn gerade am „Auschwitz-Gedenktag" explizit der jüdischen Opfer gedacht wurde, die amtierenden Oberbürgermeister stets klare Worte gegen Neonazismus, Antisemitismus und Rassenhass fanden, blieb die Abwesenheit des „jüdischen Teils" der Stadtgeschichte augenscheinlich. Selbst ein hervorragender Repräsentant der jüdischen Gemeinde wie Moritz Gans, der fast vierzig Jahre Vorsitzender der Gemeinde war und zudem noch als liberaler Stadtabgeordneter zu den honorigen Persönlichkeiten der Stadt in den 1920er Jahren gehörte, geriet in Vergessenheit.

So war es zwar eine eingestandene Tatsache, dass der Nationalsozialismus auch in Herne und Wanne-Eickel die jüdischen Gemeinden zerstört und die Menschen in die Konzentrationslager des Ostens deportiert hatte, aber keiner von ihnen wurde namentlich im Bewusstsein der städtischen Öffentlichkeit bekannt.

Schülerinnen und Schüler organisieren und präsentieren eine Gedenkveranstaltung zum 09. November in der Herner Filmwelt, 2007

Dezentrale Erinnerungsorte

Um diesem Desiderat der öffentlichen Wahrnehmung entgegen zu treten, erarbeitete Anfang 2004 ein Initiativkreis, bestehend aus engagierten Personen und Vertreterinnen und Vertretern der Ratsfraktionen, ein Gesamtkonzept zum Thema „Erinnerungsorte zur Geschichte des jüdischen Lebens in Herne und Wanne-Eickel". Wie sah das Leben der jüdischen Gemeinde aus? Wo lebte eine jüdische Familie? Von wo aus wurden die jüdischen Menschen deportiert? Die Vorschläge zu „dezentralen Erinnerungsorten" verstanden sich als ein Angebot hin zu einer lokalen Erinnerungskultur, die das Geschehen nicht dem Vergessen anheim geben wollte, denn besonders „vor Ort" findet oft Beschäftigung und Identifikation mit Geschichte statt. Schon bei der Entwicklung des Konzepts war ein Gedanke konstitutiv: Während die „dezentralen Gedenktafeln" beispielhafte Einzelschicksale behandeln sollten, sollte anschließend ein zentrales Denkmal verwirklicht werden, das den Opfern der Shoah gewidmet sein sollte. Das Bild eines Netzwerkes, das von einem zentralen Punkt über die Stadt gespannt wird, war dabei für die Konzeption anschaulich.

Das Projekt wurde bald von einem überparteilichen Konsens getragen und fand auch seine politische Umsetzung in den Gremien. Am 13. Juli 2004 beschloss der Rat der Stadt Herne, sich für die Schaffung von Erinnerungsorten, an denen der Opfer der Shoah aus Herne und Wanne-Eickel gedacht wird, einzusetzen.

Die Umsetzung

In Folge des Ratsbeschlusses entstanden so im Zeitraum von 2004 bis 2008 zehn Gedenktafeln, die über die Stadtteile verteilt „Erinnerungsorte" markieren. Die Erstellung der Tafeln selbst fand in Zusammenarbeit mit Herner Schulen statt. Dabei wurde allein die Recherche für einige der Beteiligten zu einem Lernprozess: Je nach Alterstufe war es mitunter das erste Mal, dass sich die Schülerinnen und Schüler eigenständig mit dem Thema oder mit Originaldokumenten beschäftigten. Der Besuch im Stadtarchiv war dabei obligatorisch. Dabei gab es auch Enttäuschungen, wenn trotz eingehender Suche in historischen Tageszeitungen „nichts“ gefunden wurde. Gleiches galt auch für Versuche, Nachkommen deportierter Herner Juden per Internet ausfindig zu machen. Aber allein die Tatsache, dass von vielen Menschen und ganzen Familien keine Fotos oder andere Lebenszeugnisse mehr vorhanden sind, ließ die Auswirkungen der Shoah für die Schülerinnen und Schüler greifbarer werden. Sie rekonstruierten beispielhaft ein soziales Leben, Beziehungen und Entwicklungen der genannten Familien und Personen. Sie begriffen, dass die Opfer nicht nur Objekte der Geschichte waren, eine bloße Zahl „deportierter und ermordeter Menschen", sondern brachten mit ihrer Arbeit die individuellen Stimmen und ihr Leben stärker zu Gehör, als es zuvor geschehen war.

Kenneth und Esther Ellington beim Besuch in Röhlinghausen, April 2008

Erst im Gesamtprozess entstand die Idee, die Tafeln durch ein „Logo" zu verbinden. Der bronzene Beschlag und die Zeilen „Nahtstellen, fühlbar, hier" (ein Zitat aus einem Gedicht Paul Celans, komplett abgedruckt auf der Rückseite der Broschüre) verbinden die Tafeln inhaltlich und grafisch. Gleichzeitig ist dieser Titel auch ein Verweis auf das gleichnamige Buch „Nahtstellen, fühlbar, hier ... Zur Geschichte der Juden in Herne und Wanne-Eickel", das der Historiker Ralf Piorr im Auftrag der Stadt erstellt hatte und in dem die Erinnerungen von vielen Zeitzeugen bewahrt werden.

Nachhaltiges Gedenken

Kritische Gedächtnisarbeit heißt, Erinnerungen nicht zum abrufbaren Archivmaterial verkommen zu lassen, sondern stets die konstruktive und öffentliche Auseinandersetzung zu suchen. So war auch die Arbeit an den „Erinnerungsorten" nicht folgenlos. Nicht nur die Besuche von Überlebenden der Shoah wie Leo Schnur (2005). Liesel Spencer (2007) und Kenneth Ellington (2008) ließen einen Diskussionsprozess entstehen, in dem auch die traditionellen Gedenkveranstaltungen der Stadt überdacht wurden. Die Rituale der Vergangenheit in Form von Kranzniederlegung und Worte des Oberbürgermeisters vor einer Handvoll schweigender Menschen hatten ihre Berechtigung. Sie hatten aber auch ihre Zeit. Eine Erkenntnis, die sich gerade in der Amtszeit des Oberbürgermeister Horst Schiereck durchsetzte und Veränderungen folgen ließ. Moderne Formen des Erinnerns sollten anders aussehen. In Kooperation mit den Schulen bestreitet die Stadt seit drei Jahren Gedenkveranstaltungen, die weitgehend von den jungen Protagonisten selbst gestaltet werden. Rapper mit Schirmmützen und Kapuzenpullis, Theater, Rockmusik und vorgetragene historische Textcollagen bestimmen die Inszenierung auf der Bühne, bis zu 400 meist jugendliche Zuschauer im Kinosaal der Filmwelt oder im Kulturzentrum verfolgen dabei das Programm.

„Die von Schülern gestaltete Gedenkveranstaltung hat es geschafft, junge Menschen dafür zu interessieren, die Erinnerung an Völkermord und Naziterror wach zu halten. Sie macht Jugendliche zu Handelnden. Die Resonanz ist bemerkenswert. Und sie zeigt: Der von der Stadt eingeschlagene Weg ist richtig", kommentierte der Journalist Kai Wiedermann nach der Veranstaltung zum Gedenken an die Reichspogromnacht im November 2008.

Das historische Engagement übertrug sich auch auf andere Bereiche. Das „Kinder- und Jugendparlament" (KiJuPa) besuchte im Mai 2008 das KZ Bergen-Belsen[Anm. 4] und unternahm im August 2008 eine Fahrt nach Auschwitz. Dabei beteiligte sich das KiJuPa an einem Kunstprojekt, das im ehemaligen KZ Auschwitz mit Steinen aus der ganzen Welt einen „Hügel der Erinnerung und Versöhnung" zusammentragen will. Die Resonanz der vielfältigen Erinnerungsarbeit findet auch ihren Widerhall im öffentlichen Auftritt der Stadt: Nicht viele Städte haben auf ihrer Webseite einen „Menüpunkt", der über die lokale Geschichte der Shoah und auch über die Verfolgung anderer „Opfergruppen" wie der Zwangsarbeiter, der Zeugen Jehovas und des politischen Widerstandes Auskunft gibt.[Anm. 5]

Nathalie Springel, Mandy Roheger, Janina Schwiderski und Darius Ribbe vor der Inschriftenwand auf dem Gelände des KZ Bergen-Belsen

Mit den dezentralen Gedenktafeln und dem „Zentrale Denkmal zur Erinnerung an die Opfer der Shoah" sind dauerhafte Erinnerungsorte im Herner Stadtbild positioniert. Dabei wird der Ermordeten und Verfolgten um ihrer selbst willen gedacht Das „Wirken" der Erinnerungsorte erschöpft sich dabei keineswegs allein nur in der Vergangenheitsaufarbeitung, sondern umfasst eben so sehr die Rezeption durch den Betrachter. „Natürlich ist das Mahnmal ein weit sichtbares Symbol. Das ist beabsichtigt. Aber darin darf sich unsere Erinnerungsarbeit zu diesem schrecklichsten Kapitel deutscher Geschichte nicht erschöpfen. Was allein wichtig ist: dass wir diese Symbole immer wieder mit lebendigem Dialog aufladen", erklärte Oberbürgermeister Horst Schiereck am Auschwitz-Gedenktag im Januar 2009.

Das „Denkmal" ist also keineswegs der Abschluss der Gedächtnisarbeit, sondern es wird zukünftig selbst Gegenstand und auch Impulsgeber eines engagierten Zwiegesprächs zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Und nichts anders macht eine engagierte und nachhaltige gelebte „Erinnerungskultur" aus. So absurd es klingt: Nie gab es in unserer Stadt mehr Erinnerung an die Verfolgung und Deportation der Juden als zum jetzigen Zeitpunkt - über 65 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz.


Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Stadt Herne

Anmerkungen

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Quellen

Erinnerungsorte - Shoah-Denkmal - Zum Gedenken an die Opfer der Shoah aus Herne und Wanne-Eickel - Eine Dokumentation von Ralf Piorr im Auftrag der Stadt Herne, Herausgeber: Stadt Herne, 2010