Aus der Geschichte der Bahnhofstraße II
Der Originaltext und die Originalzeichnung aus dem Herner Anzeiger vom 2. November 1935 von Leo Reiners
Anmerkung: Der Text stammt aus der Zeit des NS-Regimes und spiegelt ggf. die politische Meinung der Zeit wieder!
Aus der Geschichte der Bahnhofstraße
Wie sie vor 100 Jahren aussah - Der Ausbau zur Provinzialstraße - Die Bedeutung des Bahnhofsbaus - Die ersten Häuser
Hinsichtlich der späteren Geschichte der Bahnhofstraße wollen wir nicht ausmalen, was sie als Verbindung zwischen dem Dorf und dem Schloß Strünkede, zwischen der Kirche und den Schloßbewohnern, zwischen Dörflern und Gerichts= bzw. Gutsherrschaft für eine Rolle gespielt hat, was sie gesehen hat an fremder Soldateska in wirren Kriegszeiten, was an Handelsvolk, das von der Mark ins Vest Recklinghausen und Stift Münster zog, was an Kohlenkarren, die die kostbare schwarze Last von den Ruhrzechen nach Norden schleppten, wir wollen vielmehr verfolgen, wie diese ehemalige Landstraße zur modernen Geschäftsstraße wurde, die heute Herne das Gepräge und Antlitz gibt.
Für den Wanderer,
der im Mittelalter oder noch vor 100 Jahren die Bahnhofstraße (damals war es noch der "Weg nach Strünkede", später einfach "die Chaussee") hinabwanderte, bot sich ein reizvolles Bild. Während er heute durch einen beiderseits von Steinwänden eingefaßten breiten Graben geht, der ihm weder nach links noch nach rechts einen Blick ermöglicht und nur weit vorne die hügeligen Weiten der Haard erkennen läßt, schweifte sein Blick früher gleich beim Austritt aus dem Dorfe an der jetzigen evangelischen Kirche über das weite Emschertal. Sanft neigten sich Aecker und Weiden zur windungsreichen Emscher hinab, um auf der anderen Seite in die Recklinghäuser Mark überzugehen und weiterhin zu dem hügeligen Rand aufzusteigen, der das Emschertal im Norden abschließt.An der Straße lag vom Dorfe ab überhaupt kein Haus, zur Linken erblickte der Wanderer am Rande des völlig von grünen Weiden eingenommenen Westbachtales die stattlichen Höfe und Fachwerkbauten von Bergelmann, Sengenhoff und Rensinghoff, zur Rechten am Ostbach den Hof von Schlenkhoff. Drunten zu seinen Füßen lagen Teiche und Oelmühle von Funkenberg, etwas nach links das Schloß Strünkede mit seinen Gräften und die Höfe und Kotten von Baukau, rechts die von Horsthausen und Pöppinghausen.
Straßen und Wege
zweigten wenige von der Banhofstraße ab. Es waren nur die heutigen Kirchhof- und die Von=der=Heydt=Straße auf der einen, sowie die Marien= und die Mühlenstraße auf der anderen Seite. All die anderen Seitenstraßen, die wir heute haben, wie Franz=Seldte=, Kamp= und Graben=, Mont=Cenis= Schaefer=, Heinrich=, Kaiser=Wilhelm=, Vincke=, Damm=, Fabrik= und Friedrichstraße sind erst zusammen mit der Bebauung der Banhofstraße entstanden. Bemerkenswert ist wohl noch ein Fußweg, der (punktiert) in der Karte als "Fußweg von Baukau nach Herne" verzeichnet ist. Er zweigte bei der jetzigen Brunnenstraße von der Von=der=Heydt=Straße ab, verlief in der Richtung der jetzigen Franz=Seldte=Straße, wo der Westbach überschritten wurde, durchquerte ein Wäldchen, das im Bereich der heutigen Post lag, lief am Westrand des 1840 angelegten Friedhofes zwischen Behrens= und Kirchhofstraße entlang und kam, nachdem er die sog. Schlage passiert hatte, am "Alten Amtsgericht" auf die Bahnhofstraße.
Westlich der Bahnhofstraße
lag in sehr erheblichem Umfange Gemeinheitsland. Es waren die Koppelheide, der Dülmskamp, die Bollwiese u.a., auf die wir später noch zurückkommen. Im Jahre 1781 ist dieses Gemeinheitsland, das wechselweise zur Weide und als Ackerland benutzt wurde, unter die Interessenten aufgeteilt worden.
Auf Grund der alten Katasterunterlagen, vornehmlich der Urhandrisse, in denen die Grundstückseigentümer und Kulturarten verzeichnet sind, können wir im Geiste eine Wanderung über die Landstraße antreten, wie sie im Jahre 1823 sich dem Wanderer darbot. Die Häuser des Dorfes hörten auf der westlichen Seite der Bahnhofstraße gegenüber der Mündung des Steinwegs, wo das Spritzenhaus stand, auf. Auf der östlichen Seite war bei Schulte gt. Kortnack das letzte Haus; das jetzige Kirchengrundstück war bis zum Steinweg Pastorats=Gemüsegarten. Ging man die Bahnhofstraße abwärts, so war im Bereich des jetzigen Alten Amtsgeriches ein Gemüsegarten von Conrad Cremer jr. (Ecke), daneben bis zur Kirchhofstraße Ackerland, das der Pastorat gehörte. An der Nordecke Kirchhof= und Bahnhofstraße lag noch ein Grundstück von C. Cremer jr., daneben an der Kirchhofstraße ein Gemüsegarten des Lohgerbers Caspar Boos. Dann folgte die Bahnhofstraße entlang Ackerland von Schlenkhoff. Etwa gegenüber Cafe Funke unterbrach ein kleiner Gemüsegarten von Jacob die Ackerfluren. Die Ecke Von=der=Heydt= und Ban´hnhofstraße waren Ackerland der Pastorat. Es folgte ein Stück Weideland von Overkamp, ein Stück Ackerland von Koppenberg (zwischen Grabenstraße und Bahnhof), Weideland von Bergelmann (Bahnhofsgebiet), Ackerland von Conrad Cremer jr., ein Gemüsegärtchen von Spithaut und schließlich bis zur Baukauer Grenze (Steinmetz= und Dornstraße) Ackerland von Fleigenschmidt.
Auf der anderen Seite
der Landstraße grüßte den Wanderer an der Ecke Bahnhofstraße und Steinweg noch ein Gemüsegarten des Pastorats, dann folgten Ackerland des Pastorats, während sich an der Südseite der Marienstraße weitere Gemüsegärten verschiedener Besitzer hinzogen. Von der Marienstraße an bis fast zur Mühlenstraße - die Vinckestraße entstand erst später - begleitete Ackerland von Schlenkhoff die Landstraße. Dann kamen bis zur Baukauer Grenze in der sog. Koppenburg zahlreiche kleine Aecker, die einzelnen Herner Köttern gehörten. Hinter ihnen zog sich das eigentümliche Viereck des Mühlenteiches hin.
Besonderen Reiz empfing das Bild durch zwei Wäldchen, die nahe an die Landstraße heranrückten. Es war zur Linken das schon oben erwähnte Waldstück im Bereich der Post. Es lag zwischen Franz=Selbte=, Post=, Freiligrath= und Markgrafenstraße, unter Freilassung des Hansahausgrundstückes. Das zweite Wäldchen, zur Rechten der Straße, war der Hochwald von Schlenkhoff, dessen Südwestecke sich an der späteren Schaeferstraße befand und dessen Nordwestecke sich noch ein wenig über die spätere Kaiser=Wilhelm=Straße hinausschob. Oestlich dehnte es sich bis etwa zur Mitte zwischen Schul= und Hermann=Löns=Straße aus. Beide Waldpartien schränkten zwar den freien Blick über das Emschertal, von dem wir oben sprachen, etwas ein, gaben aber dem Ganzen recht schöne Grünkulissen.
Was nun die Straße selbst
so läßt sich feststellen, daß sie etwa 7 Meter breit war. Das ist die Breite des als Provinzialstraße angesprochenen Fahrdamms vor der im Jahre 1931 durch Verschmälerung der Bürgersteige erfolgten Erbreiterung. An den Seiten werden schon frühzeitig Wassergräben angelebt worden sein, wie sich das für eine ordentliche Landstraße gehört, ob aber Bäume an der Landstraße entlang standen, läßt sich für die alte Zeit nicht feststellen. Die bei der erbreiterung der Bahnhofstraße vor einigen Jahren gefällten Bäume waren noch nicht sehr alt. Wohl ist bemerkenswert und schon aus der Karte zu ersehen, daß die Linienführung nach 1823 begradigt worden ist. Ursprünglich bog die Landstraße an der Ecke Von=der=Heydt=Straße nach Westen ab. Von diesem alten Zug der Bahnhofstraße zeugt heute als letzter Rest der Teil der Beckstraße, in dem die Autotaxen stehen. Kurz dahinter schwenkte die alte Landstraße nach Osten hinüber, wo West= und Ostbach auf der Grenze gegen Baukau zusammenlaufen. Durch die Begradigung kam die Landstraße von der rechten Seite der vereinigten Bäche auf die linke. Die Begradigung der Bahnhofstraße hängt zusammen mit dem Ausbau zu einer richtigen "Chaussee", einer der westfälischen Provinzialstraßen. Dies geschah in den Jahren 1839-42, wobei der alte Weg über die Wiescherstraße verlassen und eine neue Linienführung über Riemke, die heuteige Bochumer Straße, geschaffen wurde. Schon 1829 war der Bau einer Kunststraße von Bochum über Herne nach Recklinghausen angeregt worden. In der Folgezeit stritt man sich viel über die Linienführung, wovon das Wochenblatt für den Kreis Bochum (Jahrgang 1829 und folgende) Zeugnis ablegt. Nachdem in verschiedenen Jahren seit 1828 die Kunststraße von Elberfeld nach Bochum gebaut worden war, galt es, diese nun über Herne, Recklinghausen und Haltern weiter ins Münsterland zu führen. Da es noch keine Eisenbahn gab, mußte diese Straße als durchgehende Verkehrsader große Bedeutung haben. So kam denn in den Jahren 1839-42 auf Kosten dr Gemeinden Bochum, Riemke und Herne mit einem Staatszuschuß die Kunststraße von Bochum über Riemke bis zur Emscherbrücke bei Herne zustande. Die Stadt Recklinghausen führte die Straße weiter, und 1843 wurde sie von der Königlichen Bauverwaltung übernommen. Recht bald setzte ein lebhafter Verkehr von Fahrzeugen mit Kohlen, Ziegelsteinen usw. ein. Besonders als 1847 der Bahnhof Herne entstand, für den die Landstraße einiziger Zubringerstraße war, wuchs der Verkehr ganz erheblich. Er wurde so stark, daß z.B. im Jahre 1857 an dem Sperrbaum in Riemke insgesamt 28 114 M. Chausseegeld eingenommen wurden.
Die Entstehung des Bahnhofs Herne
hat auch die Bebauung der Bahnhofstraße gefördert und den Auftackt gegeben zur Entstehung der heutigen Geschäftsstraße. Wie die Karte zeigt, bildeten sich zwei Ansiedlungsstellen. Die erste war das Bahnhofsviertel etwa zwische Vinckestraße und Friedrichstraße, die zweite das Gebiet in der Nähe des Dorfes, etwa zwischen "Cremers Hof" und Behrensstraße. Bevorzugt wurde die westliche Straßenseite, auf der östlichen entstanden bis 1870 zwischen Dorf und Bahnanlagen ganze vier Häuser.
Wenn wir im einzelnen aufzeigen wollen, welche Häuser bzw. Hausgrundstücke die ältesten auf der Bahnhofstraße sind und wie sich der Fortschritt der Besiedlung vollzogen hat, so müssen wir mit dem sog.
„Cremers Hof“
anfangen, dessen Name allerdings nicht der ursprüngliche ist. Er ist nämlich von Hochstrate gt. Jasper erbaut worden. Die Jaspers besaßen einen Kotten am Steinweg. Der 1773 geborene Friedrich Wilhelm Jasper hatte nur zwei Mädchen, von denen die jüngere, Anna Charlotte Maria, sich im April 1829 mit Friedrich Wilhelm Hochstrate aus Blankenstein verheiratete. Das Ehepaar übernahm durch Uebertragsvertrag vom 1. 7. 1833 gegen Leibzucht und Abfindung der älteren Schwester den Kotten. 1843 verkauften sie ihn an den Zimmermann Wilh. Garmshausen aus Hiltrop, der ihn 1862 an den Nachbarn Schlenkhoff gt. Dux weiter veräußerte. Der Verkauf an Garmhausen konnte geschehen, weil die Eheleute Hochstrate gt. Jasper sich ein neues Eigentum am der Bahnhofstraße erbaut hatten. Das Grundstück war durch Vertrag vom 22. 4. 1841 vom Presbyterium der evgl. Gemeinde in Erbpacht erworben worden. Hochstrate hatte ein Erbstandskapital von 200 Talern pro Scheffelse (zu 104 Ruten gerechnet), das waren insgesamt 1253 Taler 13 Sgr. 10 Pfg., sowie einen jährlichen Erbpachtzins von 37 Talern 18 Sgr. 1 Pfg. zu zahlen, wofür der Besitz auf ihn überschrieben wurde. Er erbaute auf dem Grundstück ein Wohnhaus, ein Brenn- und Brauhaus, Scheune und Stallung, führte also Brauerei und Wirtschaft. Im Jahre 1862 wurde der Besitz auf den Sohn Friedrich Wilhelm Hochstrate gt. Jasper jr. Übertragen, der seine Geschwister (Lisette, verehelicht mit Schmiedemeister Wilh. Sassenhoff, Heinrich und Wilhelm Heinrich) abfinden mußte. Als der neue Eigentümer 1875 starb, hinterließ er ein Kind, die 5jährige Anna Catharina, über die der Oekonom Ludwig Schlenkhoff die Vormundschaft übernahm, während die Witwe Wilhelmine Charlotte geb. Henrici den Gastwirt und Conditor Haarmann in Witten heiratete. Der Besitz war aber derart überschuldet, daß eine Erbteilung nicht erfolgte, vielmehr kam es 1881 zur Zwangsversteigerung, bei der der „Landwirt und Gerichtstaxator“ Fried. Cremer, der spätere Gemeindevorsteher, das Besitztum erwarb. Seit dieser Zeit hat sich der Name „Cremers Hof“ eingebürgert. Allerdings stand zuletzt von den ursprünglich Hochstate-Jasperschen Gebäuden nur noch das Wohnhaus, an das Stall und Fruchtscheune angebaut worden waren, während die Brennerei- und sonstigen Nebengebäude verschwunden waren. 1928 enstanden anstelle des alten Hofes die einstöckigen Ladenbauten an der Bahnhofstraße, die heute noch den Namen „Cremers Hof“ tragen.
- Dr. Reiners