"Nachts bis 6.00 Uhr auf den Beinen" (WAZ 2008)

Aus Hist. Verein Herne / Wanne-Eickel

Der Historiker Ralf Piorr beschreibt den Tatvorgang anhand neuer Quellen. Grundlage sind Akten des Bundesarchivs Koblenz, die erstmals einer breiten Öffentlichkeit vorgestellt werden.[1]

70 JAHRE NACH DER REICHSPOGROMNACHT

"Fahnen flatterten seit dem frühen Morgen herzblutrot und mit dem sieghaften Zeichen des Sonnenrades von den Herner Türmen, Fabriken, Schächten und Häusern. An vielen Lautsprechern lauschte man den Worten des Führers. Als sich dann abends die Schatten über die Stadt gesenkt hatten, marschierte auch Herne", verklärt der Herner Anzeiger das Szenario.

Während im "Alten Rathaussaal" in München Hitler und Konsorten feiern, füllen die Herner den Saalbau Strickmann, in Wanne-Eickel lädt der NSDAP-Kreisleiter Wilhelm Bönnebruch-Althoff - selbst ein "Alter Kämpfer" und Parteimitglied seit 1925 - in die schließlich überfüllte Stadthalle ein.

Bereits seit Wochen hatte die antisemitische Hetze die Stimmung aufgeheizt. Hintergrund war das Attentat des 17-jährigen Herschel Grynszpan[2] auf den deutschen Botschaftssekretär Ernst vom Rath[3] in Paris. Die NSDAP[4] war gewillt, diese Tat eines Einzelgängers propagandistisch auszuschlachten. Am Abend des 9. November wird gegen 21 Uhr der Tod Raths bekannt.

In München setzt daraufhin Reichspropagandaminister Joseph Goebbels nach einem "intensiven Gespräch" mit Hitler zu einer antisemitischen Hasstirade an. In ihr kündigt er die bevorstehende Vergeltung "der Schandtat von Paris" an, für die die Juden zu büßen hätten. Antijüdische Gewalttätigkeiten seien "von der Partei weder vorzubereiten noch zu organisieren, soweit sie spontan entstünden, sei ihnen aber auch nicht entgegenzutreten". Die Botschaft ist für die anwesenden Führer von NSDAP und SA[5] ein Blankoscheck zum Pogrom, nur sollen gemäß Goebbels'scher Direktive nach außen hin weder Partei noch SA als Urheber in Erscheinung treten.

Die Übermittlung zu den Ortsgruppenleitern funktioniert reibungslos. Etwa gegen 23.30 Uhr müssen auch in den hiesigen Trupplokalen die Telefone geklingelt haben. Die Partei und SA-Mitglieder sitzen nach der "Heldengedenkfeier" größtenteils noch zechend zusammen. Während in Herne der NSDAP-Kreisleiter Karl Nieper wenigstens noch gemäß der Goebbels'schen Forderung seine Uniform gegen Zivilkleidung tauscht, marschiert in Wanne die SA geschlossen und in brauner Montur zur Synagoge in der Langekampstraße. Man bemüht sich nicht einmal darum, sich den Anschein des "spontanen Ausbruchs des Volkszorns" zu geben, wie die Verklärung der Reichspogromnacht später lautete.

Der Wanner SA-Mann Paul Jokiel gab im Dezember 1948 zu Protokoll: "Als wir (sein SA-Trupp) an der Synagoge ankamen, sah ich dort schon mehrere SA-Stürme stehen. Auch den Kreisleiter Bönnebruch-Althoff habe ich dort gesehen. Er hat zu uns gesprochen und gesagt, wir sollen Benzin nehmen und die Synagoge in Brand stecken. Ich habe dann gesehen, wie mir unbekannte SA-Leute Benzinkannen trugen."

Vermutlich wird von der Gärtnerei Breuser, die ansonsten für den Schabbat die Blumendekoration in die Synagoge liefert, Holzwolle zur zusätzlichen Brandverstärkung herangeschafft. SA-Mann Wilhelm Eickmeier und Oberbürgermeister Heinrich Günnewig legen persönlich Hand an.

Ähnliche Szenen, allerdings mit den Brandstiftern in "Räuberzivil", spielen sich auch in Herne an der Schaeferstraße ab. Gegen zwei Uhr nachts stehen in beiden Städten die Synagogen lichterloh in Flammen. Die anrückenden Feuerwehren werden von den "Nazis in Zivil" dazu angehalten, ausschließlich dafür Sorge zu tragen, dass das Feuer nicht auf andere Gebäude überspringt. Gelöscht wird nicht.

Das Pogrom kommt in Fahrt. In den Hauptgeschäftsstraßen der beiden Städte werden jüdische Geschäfte geplündert. Gruppen der SA dringen in die Wohnungen jüdischer Bürger ein und zerschlagen das Mobiliar. Nach Kriegsende rollte die Bochumer Polizei die Herner Ereignisse noch einmal auf: Der "als Judenhasser bekannte" Nieper und der "besonders judenfeindlich gesinnte" Ortsgruppenleiter Landwehr hielten sich in der Bahnhofstraße auf. Wenn der Kreisleiter "sich selbst auch passiv verhalten und persönlich keine Hand angelegt hat, so dürften doch Befehle in dieser Richtung von ihm ausgegangen sein", lautet das Resümee. An anderer Stelle heißt es gerichtsprotokollarisch: "Nieper ist selbst an der Brandstelle während des Brandes mit dem Oberbürgermeister Meister erschienen und hat anschließend dessen Einladung in das Lokal des Kreisbrandmeisters Köhlhoff Folge geleistet. Meister hatte noch einige andere Herren eingeladen, und zwar mehrere Polizeioffiziere und den Leiter der Herner Schutzpolizei. In angeheiterter Stimmung führte er wegen des Synagogenbrandes, der ihm wohl als ein Fanal kommender Ereignisse erschien, einen Freudentanz auf." Karl Nieper selbst notierte nach den ereignisreichen Stunden in seinen Terminkalender: "Nachts bis 6.00 Uhr auf den Beinen."

Während am Morgen des 10. November alle jüdischen Männer zwischen sechzehn und sechzig Jahren verhaftet und ins Konzentrationslager Sachsenhausen[6] gebracht werden, defilieren tausende von Herner Schülern an den noch qualmenden Resten der Synagoge vorbei. In der Bahnhofstraße verteilen derweil die Volksgenossen die übrig gebliebene Beute. So sind mehrere Geschäfte von Berthold Wollstein in der Nacht geplündert worden. Nun schaltet sich die "Gruppe Einzelhandel" ein, um das Warenlager zur Verteilung zu bringen. Die Bestände werden in gleichmäßige Teile aufgeteilt und unter den anwesenden "arischen" Möbelhändlern verlost, die Reste einem Althändler überlassen.

Gemäß dem Zynismus der NS-Logik werden die Opfer zur Verantwortung gezogen. In einem Brief des Oberbürgermeisters Albert Meister an Moritz Gans, den Vorsitzender der Synagogengemeinde, heißt es: "Da an einen Wiederaufbau (der Synagoge) nicht zu denken ist und auch nicht in Frage kommt, werden Sie aufgefordert, umgehend mit den Aufräumungsarbeiten der Trümmer zu beginnen." Sollte Gans der Anordnung nicht Folge leisten, würde dies seitens der Polizei ausgeführt. Die Kosten von 2000 Reichsmark würden "im Zwangswege von Ihnen eingezogen werden". Auch Frieda Fischel, Inhaberin des in der Reichspogromnacht angezündeten Möbelhauses "Liffmann", Bahnhofstraße 147, erreicht eine Anordnung der Stadt. Sie wird ebenfalls aufgefordert, umgehend mit der Aufräumung des Grundstückes zu beginnen - vor allem, weil durch die Trümmer "das Straßenbild gröblich verunstaltet" würde. [7] [8]

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