Mein Viertel – ein persönlicher Rückblick

Aus Hist. Verein Herne / Wanne-Eickel
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Mein Viertel – ein persönlicher Rückblick

Als ich 1953 nach Herne kam, wohnten meine Eltern schon ein paar Jahre im Bereich Goethe-/Bredde-/Mont-Cenis-Straße. Die ersten Jahre meines Lebens hatte ich bei meinen Großeltern in einer typischen Zechenkolonie in Oberhausen-Osterfeld verbracht.
In dem eineinhalbgeschossigen Herner Wohnhaus lebten auf den drei Etagen (mit Dachboden natürlich) damals zeitweise acht Familien. Nach und nach verbesserte sich aber die Wohnsituation und uns standen plötzlich drei Räume zur Verfügung. Luxus pur.
Meine Eltern verlegten daher die Küche, die sich eigentlich auf der Straßenseite des Hauses befand, zur Hofseite. Das hatte praktische Gründe, so hatte Mutter alles im Blick, wenn wir Kinder auf dem noch ungepflasterten Hof spielten.
Unsere Welt beschränkte sich damals auf das Karee zwischen Schillerstraße, Auf der Insel, Marienstraße (heute Glockenstraße), Schulstraße, Breddestraße und Steinweg. Auch der alte Friedhof an der Mont-Cenis-Straße mit der angrenzenden Pferdewiese, der „wilden Gartenanlage“ entlang des ehemaligen „Strötkens“, der ehemaligen Verlängerung des Ostbachtalweges zwischen Schiller- und Goethestraße, gehörte zu unserem Spiel- und Erkundungsbereich. Wir Jungen kickten sehr gerne auf der Pferdewiese, manchmal gegen ein Team von der Schillerstraße, meist aber waren es Teams, die aus Gleichaltrigen aus unserm Viertel gebildet wurden. Einmal stieg ein Nachbar über den Zaun, schaute uns zu. Es war Dieter Kurmann, der damals wohl ein Amt bei SuS Reichsbahn bekleidete. Er lud uns zum Training auf den Platz am Stadtgarten ein. Einige Jungen folgten der Einladung, doch nach einer Woche gab es auf unserer geliebten Pferdewiese wieder ein Match „Westfalia gegen Sodingen“, denn die Mannschaft von der Schillerstraße gehörte für uns damals eindeutig nach Sodingen. Wir von der Goethestraße waren einfach „die Westfalia“. Bei der Reichsbahn ist meines Wissens damals, als Deutschland erstmals Fußball-Weltmeister wurde, aus unserer Pöhlrunde niemand geblieben, denn wir liebten unsere Wiese im Ostbachtal.
Alle meine Freunde – es waren meist Kinder, die in der Nachbarschaft lebten, besuchten wie ich die Schulen in der Nähe lagen: Evangelische Schule an der Breddestraße, Gemeinschaftsschule an der Mont-Cenis-Straße oder Katholische Schule an der Schulstraße. Wenn Schulschluss war, ging es sofort nach Hause, wo Mutter mit dem Mittagessen wartete. Danach wurde sofort das Geschirr, Besteck, Töpfe oder Pfannen gespült, dann der Tisch abgewischt und wir setzten uns, um Schularbeiten zu machen. Manchmal durfte ich den Schulfunk im Radio hören, später auch den Kinderfunk. Da gab es immer spannende Geschichten. Aber in den meisten Fällen ging es schnell raus, bevor Mutter einen mit neuen Aufgaben betraute. Auf dem Hof oder auf der noch autolosen Straße warteten Freunde darauf, um gemeinsam den Nachmittag zu verbringen. In einer Gasse zwischen den Goethestraße Häusern 20 und 22 wurde oft geknickert, auch mal mit Pfennigstücken geworfen, wer sein Geldstück am nächsten an der Hauswand platzieren konnte, durfte die anderen Münzen behalten.

Ja, das Geld. Taschengeld gab es nicht. Bei uns im Haus wohnte unter anderem eine Familie mit einer schon erwachsenen Tochter. Die hübsche Erika, sie war der Schwarm aller Jungen in meinem Alter, arbeitete in einem Lebensmittelgeschäft, das gegenüber der Herz-Jesu-Kirche lag. Immer freitags suchte sich Frau Bitterberg einen Jungen oder Mädchen aus unserer Kindermeute aus. Die oder der Auserwählte wurde dann mit einem Einkaufsnetz und Zettel ins besagte Lebensmittelgeschäft geschickt. Für den erfolgten Einkauf wurde man mit zehn oder zwanzig Pfennig belohnt.

So spielten wir Kinder, die kein Taschengeld bezogen, meist zufällig freitags vor dem Küchenfenster der Bitterbergs. Meist klappte es.

Einkaufen ging meine Mutter meist nur einmal die Woche. Fehlten Kleinigkeiten wie Brot oder Milch, wurden oft meine jüngeren Geschwister geschickt. Aber meist erwischte es mich. Lebensmittel gab es bei Delbeck oder Drilling, Wurst und Fleisch bei Blomann oder Schuster (gibt es auch heute noch), Gemüse bei Schade, Brot bei Ahaus und Milchprodukte wurden bei Michaelis gekauft. Zum Transport der weißen Fracht diente eine Aluminiumkanne. Abends gab so meist eine Milchsuppe: mit Reis, Nudeln oder Haferflocken. Brote mit Wurst oder Käse gab es nur in Ausnahmefällen. Auf die Frühstücksbrote kam Marmelade, Rübenkraut oder Pflaumenmus. Wenn Lohntag war, kaufte Mutter beim Metzger einen Kringeln Fleischwurst, der zu Hause in einem Topf mit heißem Wasser landete und danach mit Hochgenuss von der Familie verspeist wurde.

In den 1960er-Jahren begann in der Herner Innenstadt eine große Modernisierungsphase. Auf der oberen Goethestraße fielen etliche Häuser der Abrissbirne zum Opfer. Auch der Bereich Altenhöfener Straße/Steinweg/Wiescherstraße gehörte dazu. So verschwanden "Hirdes Ostentor", eine legendäre Kneipe, das Cafe Schute um nur einige der viertelprägende Gebäude zu nennen. Zwischen dem Gelände der alteingesessenen Stahlbaufirma Linnenbrügger und dem Baustoffhandel Kusemann breitete sich damals eine wilde, aber intakte Gartenlandschaft aus. Auch hier stand noch ein alter Kotten, ein Fachwerkhaus, das aber ebenfalls dem Modernisierungswahn geopfert wurde. Auto Meyer, ebenfalls an der oberen Goethestraße ansässig, bekam ebenfalls ein neues Firmengelände. Die Feuerwehr erhielt im neuen Einmündungsbereich Sodinger Straße im Zuge der Modernisierung eine neue Wache. Die Wache an der Breddestraße/Hermann-Löns-Straße blieb noch eine Weile erhalten, dann erfolgte der Umzug. Der Abriss der kleinen, historischen Wagenremisen erfolgte. Auf dem Gelände, hinter der alten Wache, neben der Schule an der Breddestraße, wuchs nun ein Wohnturm in die Höhe. Herne hatte plötzlich ein neues, modernes Wahrzeichen. Vom Küchenfenster aus konnte ich das Wachsen des Gebäudes während der Bauphase hautnah miterleben.

In der Geschäftswelt – unserem kleinen, intakten Universum – erfolgte ebenfalls ein Umdenken. Nach und nach verschwanden die liebgewonnenen Geschäfte. Oft aus Altersgründen, denn die meisten Geschäfte wurden von den Inhabern selbst geführt. Drilling verschwand, das ehemlaige Lebensmittelgeschäft wurde zur Kneipe, die Metzgerei Blomann schloss, später kamen die Bäckerei Ahaus und das Lebensmittelgeschäft Delbeck und der Gemüsehandel Schade hinzu. Nur Trinkwald auf der Mont-Cenis-Straße blieb den Kunden noch bis in die 1990er-Jahre erhalten. Auch das ehemalige Motorradgeschäft Rüthing hatte plötzlich eine ganz andere Firmenphilosopie.

Damals boomte jedoch die Kneipenszene. Manchmal gingen wir, meine Eltern und ich, samstags nach Fegbeitel (Mont-Cenis-/Hermann-Löns-Straße), um dort mit anderen Gästen in die Glotze zu starren. Doch das sollte sich bald ändern: Nach und nach gehörte so ein TV-Gerät in jeden Haushalt.

Unsere Stamkneipe blieb über Jahrzehnte hinweg das alte Haus „Fuhrmann/Bosk“ an der Ecke Goethestraße. Später nannte man diese Gaststätte auch stolz "Goethe-Eck". Dort gab es auch eine Kegelbahn, auf der ich in den späten 1950er-Jahren ab und zu als Kegeljunge aushalf. Fünf Mark gab es für einen Einsatz. Davon konnte man dann am darauffolgenden Samstag oder Sonntag mehrfach ins Kino gehen.

Auf der Bahnhofstraße gab es Scala, Astoria, Gloria, Lichtburg, Schauburg und die Kammerlichtspiele. Beliebt waren damals Cowboy- und Ritterfilme. Zorro, Fuzzy, Dick und Doof oder Pat und Patachon lockten uns in die Lichtspielhäuser.


Ein Artikel von Friedhelm Wessel[1]

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Quellen

  1. Veröffentlicht im März 2016 bei Facebook. Mit freundlicher Genehmigung.