Immer näher klingt das Dröhnen, Keuchen, Fauchen
Am 15. Mai 1847 begann in Herne das Eisenbahnzeitalter. Für die Augenzeugen im damaligen 1000-Seelen-Dorf war es eine Begegnung der besonderen Art. Heute aber sind die Bahnhöfe dringend sanierungsbedürftig.
Frank Grieger
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Das Auto mit Verbrennungsmotor musste erst noch erfunden werden. Auch Edisons Glühlampe und der Phonograph waren Zukunftsmusik, als die ersten Züge ins beschauliche Herne mit seinen damals gerade einmal
1000 Seelen donnerten. Vor 170 Jahren, am 15. Mai 1847, begann in unserer Stadt das Eisenbahnzeitalter: An jenem Tag wurde die Strecke Duisburg – Hamm, an der Herne lag, feierlich in Betrieb genommen.
Bahnhof Herne-Bochum hieß die Station, die etwas südlich des heutigen Bahnhofs an der Von-der-Heydt-Straße lag. Möglich machte es die Köln-Mindener Eisenbahn, die das Teilstück Duisburg-Hamm eröffnet hatte – und im Zuge dessen eben auch das Bahnhofsgebäude. Erstaunlich früh, denn die Nachbarn aus Bochum durften sich erst 1861, also 14 Jahre später, an einem eigenen Bahnhof erfreuen (damit verlor der Herner Bahnhof den Zusatz „Bochum“). Auch Wanne-Eickel, die spätere Stadt der 1000 Züge, bekam erst 1856 den ersten Güterbahnhof und 1864 den ersten Haltepunkt für den Personenverkehr. Wie aber musste man sich die erste Begegnung mit einer Dampflok vorstellen,die für unsere Ururgroßeltern etwa so futuristisch anmutenmusste wie für unsereinen ein schnittiger Raumgleiter? Im Heimatbuch der Stadt Herne (in der Bearbeitung des Rektors Johannes Decker von 1927 – nachzulesen im äußerst gelungenen Herne-Wiki des Geschichtsvereins „Hün un Perdün“) findet sich ein eindrucksvoller Bericht darüber.
Zwischen Neugier und Entsetzen
„Die große Bahnhofsglocke meldet mit lautem Klang die Ankunft des Zuges“, heißt es dort: „Der Bahnhofsvorsteher v. Schierstaedt und sein Hilfspersonal stehen in ihren neuen, schmucken Uniformen zur
Empfangnahme des Zuges auf dem schmalen Bahnsteige bereit. Da unten dampft, stampft und stürmt etwas heran." Ganz offensichtlich schwanken die Augenzeugen zwischen Neugier und Entsetzen: „Immer näher klingt
das Dröhnen, Keuchen und Fauchen. Ein schriller, langgezogener Pfiff der Lokomotive verstärkt bei vielen den innewohnenden Schrecken. Die Angsthasen laufen, so schnell sie ihre Beine nur tragen können, feldeinwärts. Für sie ist heute der jüngste Tag angebrochen. Ängstlich bleiben sie weitab des Bahnkörpers stehen, schauen scheu nach dem Zuge, um sich zu vergewissern, ob er nicht in seiner Tollheit
in die Menschenmenge hineingerasselt ist.“ Auch die Kühe und Pferde in der Nachbarschaft reagieren panisch: „Den Schwanz hoch gekringelt, läuft alles in wildem Galopp die Weiden auf und ab, und verängstigt
setzen sie über Hecken und Zäune.“
Die Mutigeren unter den Zweibeinern halten tapfer die Stellung. „Aber die eingetretene Ruhe und Stille verrät doch ihr beklommenes Herz. Mit einem scheuen Hutschwenken und mit dem zögernden Wehen der Taschentücher begrüßen sie den nahenden Zug“, schreibt Decker weiter. Dann kommt die Lok endlich zum Stehen. Sie ist mit Girlanden und Fähnchen geschmückt. Nur ein einziger Wagen ist mit Fenstern ausgestattet, „in dem sitzen die hohen Herren“. Ein anderer hat statt der Fenster Vorhänge aus Leinen, alle übrigen Wagen sind offen und haben nicht einmal ein Dach. Amtmann Engelbert Esser hält eine kleine Ansprache und dankt den Vertretern der Regierung und Eisenbahngesellschaft – ehe er selbst zusteigt und mit nach Hamm fährt. „Unter dem Geläute der Kirchenglocken begann das Dampfen und Stöhnen der Lokomotive, und ratternd quälte sich der Zug weiter …“ Bis 1914 hatte der erste Herner Bahnhof Bestand. In der Zwischenzeit hatte sich einiges getan: Zechen wie Shamrock, Friedrich der Große und Mont Cenis erhielten Gleisanschlüsse. Herne wurde zur pulsierenden Industriestadt, deren Einwohnerzahl
bis 1910 auf über 57 000 nach oben geschnellt war. Da brauchte es natürlich auch einen neuen Bahnhof. Der wurde 1914 von den Preußischen Staatseisenbahnen eröffnet,erbaut im so genannten Reformstil (der nüchterner und moderner ausfiel als der bis dahin weit verbreitete Historismus). Mit dem neuen Bahnhof verbunden ist einer der schwärzesten Tage in der Herner Stadtgeschichte: Am 13. Januar 1925 kamen bei einem Auffahrunfall zweier Züge 24 Menschen ums Leben (siehe Verspätung mit fatalen Folgen).
Die Bausünden der 1970er-Jahre
Und heute? Es gehört zu den vielen Errungenschaften der Internationalen Bauausstellung Emscherpark (IBA), dass sich das Gebäude mehr als ein Jahrhundert nach seiner Eröffnung wieder so darstellt wie in seinen Anfangsjahren. Noch 1970 war der Bahnhof im Stil der Zeit modernisiert (aus heutiger Sicht: verschlimmbessert) worden. Dazu gehörte die Abhängung der Kuppel in der Empfangshalle, Fensteröffnungen
wurden zugemauert, Mauern rosa angestrichen. Auch das schmucke fünfteilige Glasfenster des Künstlers Jupp Gesing, 1953 entstanden, verschwand in der Versenkung. Erst in den 1990er-Jahren wurden diese Bausünden (wie auch im Hauptbahnhof Wanne-Eickel) im Zuge einer denkmalgerechten Restaurierung behoben. Mit dem großzügigen Glasdach über dem Zentralen Omnibusbahnhof erhielt das Bahnhofsareal Mitte 2004 sein heutiges Gesicht. Zumindest äußerlich verfügt Herne – übrigens die einzige Ruhrgebietsstadt, in der die Bahn zwei Reisezentren betreibt – somit über zwei
durchaus schmucke Bahnhöfe. Innen sieht die Sache gleichwohl etwas anders aus. Mit kaputten Fliesen, Fassadenrissen und Flecken an der Wand halten sich die Schäden im Wanne-Eickeler Hauptbahnhof noch einigermaßen in Grenzen. Womöglich noch übler sieht es wegen undichter Überdachungen, Pfützen und Wasserschäden im Herner Bahnhof aus. Kann man nur hoffen, dass Herne vom groß angekündigten Sanierungsprogramm der Bahn auch wirklich profitiert: Beide Standorte stehen auf der Liste der Modernisierungsoffensive,im Zuge derer die Bahn bis 2023 insgesamt 150 Bahnhöfe in Nordrhein-Westfalen renovieren möchte. Im Fokus stehen jeweils die Bahnsteige. In Herne sollen die Arbeiten 2020 beginnen, für Wanne-Eickel gibt es noch keinen genauen Zeitplan.
Sanierungsprojekt „1 von 150“
Bis 2023 wollen die Bahn, der VRR, Nahverkehr Rheinland und Westfalen-Lippe sowie das Bundesverkehrsministerium 150 Bahnhöfe sanieren. Investitionsvolumen: eine Milliarde Euro.
6,3 Millionen sollen in den Herner Bahnhof fließen. Für Wanne-Eickel sind sogar 16 Millionen avisiert.
Info: www.1von150.de
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Quellen
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