Als der erste Zug durch Herne kam
Ein wunderschöner Maimorgen war angebrochen. Still und feierlich, von keinem störenden Geräusch durchbrochen, lag die Natur da. Die Sonne erhob sich in blendender und majestätischer Schönheit über den Horizont und weckte auch im Dorfe Herne die Alten zu frohem Schaffen. Aber für heute schien sich hier ein ganz besonderer Feiertag vorzubereiten. Die Pferde standen wiehernd in den Ställen, oder sie zeigten auf den Weiden durch lustige Sprünge ihre Verwunderung über den ungewohnten Ruhetag. Schon kamen aus der Nähe und Ferne Kinder und Erwachsene zu Fuß und zu Wagen ins Dorf. Auch der alte Lehrer Nohl und sein Hilfslehrer Klappert führten ihre Schulkinder in geordneten Reihen zum Holtapen (Holt = Holz; ape = Wasser, Busch in einer Sumpfgegend). Im Festschmucke prangt hier das neuerrichtete Stationsgebäude. Alles steht dicht gedrängt voll Menschen, darunter fast die ganze Einwohnerschaft von Herne, vom Großvater und der Großmutter bis zu dem kleinsten Kinde auf dem Arme. Eine ältere Frau von Horsthausen aber ist zurückgeblieben. Sie will das Unheil nicht ansehen, das heute geschehen wird, und sie hat Stein und Bein geschworen: "Wenn ouk de ganze Welt met de Bahn föht, eck dau et nich." Diesen Schwur hat sie auch wacker gehalten. Unverwandt sind die Blicke der Neugierigen nach Wanne zu gerichtet. Es gilt ja heute, den Weg seiner Bestimmung zu übergeben, der die Welt von Duisburg bis Hamm auf zwei blanken Eisenschienen verbinden soll. Wie verschiedenartig ist die Gedankenwelt der Menschen, die hier, des großen Ereignisses harrend, dastehen. „Wie sieht das Ding wohl aus?"
Die einen wollen sich den kühlen und lässigen Gleichmut, mit dem sie bis jetzt gewappnet dastanden gegen alles Fremde Geschehen, in dem sie heimatgeborgen blieben vor dem Blicke und der Neugier fremder Umgebung, durchaus nicht rauben lassen. In ihrem Gleichmaß von ruhiger Vernunft und kühler Betrachtung begreifen sie, dass Überrumpelung durch irgendein unerhofftes neues, nicht gewünschtes Fremdes sie aus der altgewohnten Beschaulichkeit und festgerichteten Zielsetzung ihrer Lebensgewohnheiten aufstören und sie hilflos einem Zwiespalt von Hast und alter, ruhiger Bequemlichkeit ausliefern werden. Mit einer gewissen Aufregung und Angst erwarten sie deshalb die Dinge, die sich hier heute zum ersten male vor ihren Augen abspielen sollen. Sie durchleben in Gedanken noch einmal all das Unangenehme, das schon der Bahnbau mit sich gebracht hat. Sie erinnern sich der verwegenen Menschen, die so eigenmächtig und willkürlich ihre Ländereien verdorben hatten, ihr Vieh herrenlos umherlaufen ließen, die, ohne die Kostschuld zu bezahlen, bei Nacht und Nebel verschwunden waren. Auf einem solchen Unternehmen konnte nach ihrer Meinung kein Segen ruhen. Nun sollte gleich das "Ungeheuer" kommen, mit Dampf wollte man durch die Welt fahren, wenn das nur kein Schwindel war, und ob sich hinter dieser Lüge nicht vielleicht noch etwas Gefährlicheres verborgen hielt. "Wie sieht das Ding wohl aus, das Menschen und Tiere totfährt, das unsere Häuser in Brand steckt und uns allen alles vernichten wird?" so fragte bang der eine den andern. Dabei schauten die Augen in furchtsamer Erwartung nach der Richtung, woher der Vernichter aller Werte kommen sollte. Ihnen graute und bangte vor der Zukunft.
Anders dachten die, die da in Grüppchen zusammen standen, es waren die Lebensklugen. Ihr auf den Fortschritt gerichteter Geist enträtselte die Welt. Sie ergründeten die Dinge nach Ursache und Wirkung. Ihre in der Welt da draußen geschulte Vernunft erleuchtete bei ihnen alles Dämmerdunkel, in dem die anderen ihre Befriedigung fanden. Für sie war dieser Tag eingestellt auf den klugen Plan des Vorteils, der nüchternen Berechnung. Was bekümmerten sie sich um das verunstaltete Bild der heimatlichen Landschaft, um ihren Zauber, ihre Stille und Ruhe, die nun gestört wurden. Um des erhofften und zukunftsnahen Vorteils willen gaben sie die Naturschönheiten gern preis, all die dichtbeschatteten Wäldchen, aus denen das Holz gebrochen, das Gebüsch gerodet war, die jetzt mitsamt der zusammenhängenden Feld- und Weidemark von glattgezirkelten Eisensträngen durch quert und durchteilt waren. Bei ihnen hatte sich der Grundsatz festgesetzt, sich über nichts zu wundern und zu grämen, sondern nur die nie in starren Formen begriffene Vielfältigkeit des Lebens in ihrer Weiterentwicklung klugerweise für ihren Nutzen zu berechnen. Alles Unangenehme und alle Vernichtung an Alterswerten wurde von ihnen gern in Kauf genommen, wenn nur das Geld in ihre Taschen rollte. In diesen kalten Gedanken versunken, harrten diese Menschen in Ruhe und selbstsüchtiger Freude auf den ersten Glücksbringer.
Es dampft, stampft und stürmt. Auf einmal wird es lebendig in den Reihen der bewegungslos dastehenden Menschenmauer. Die große Bahnhofsglocke meldet mit lautem Klang die Ankunft des Zuges. Der Bahnhofsvorsteher v. Schierstaedt und sein Hilfspersonal stehen in ihren neuen, schmucken Uniformen zur Empfangnahme des Zuges auf dem schmalen Bahnsteige bereit. Da unten dampft, stampft und stürmt etwas heran. Ein bis jetzt in der Stille der Landschaft ungewohntes Geräusch macht sich bemerkbar. Immer näher klingt das Dröhnen, Keuchen und Fauchen. Ein schriller, langgezogener Pfiff der Lokomotive verstärkt bei vielen den innewohnenden Schrecken.
Die Angsthasen laufen, so schnell sie ihre Beine nur tragen können, feldeinwärts. Für sie ist heute der jüngste Tag angebrochen. Ängstlich bleiben sie weitab des Bahnkörpers stehen, schauen scheu nach dem Zuge, um sich zu vergewissern, ob er nicht in seiner Tollheit in die Menschenmenge hineingerasselt ist. Selbst die Kühe und Pferde auf den Kämpen werden von dem ungewohnten Geräusch und dem seltsamen Anblick beunruhigt und erschreckt. Neugierig heben sie die Köpfe und schauen verwundert das neue, dahin tosende Fuhrwerk an. Den Schwanz hoch gekringelt, läuft alles in wildem Galopp die Weiden auf und ab, und verängstigt setzen sie über Hecken und Zäune. Die Mutigen harren am Bahnhofsgebäude aus. Aber die eingetretene Ruhe und Stille verrät doch ihr beklommenes Herz. Mit einem scheuen Hutschwenken und mit dem zögernden Wehen der Taschentücher begrüßen sie den nahenden Zug. Da kreischt die Maschine! Rutsch, rutsch! Der Zug hält. Wie nett war das doch alles. Da steht vorn die blanke Maschine, mit Guirlanden und Fähnchen geschmückt, und dahinter sind die funkelneuen Wagen. In dem einen Wagen sind sogar Fenster, in dem sitzen die hohen Herrn. Der andere hat statt der Fenster Zugvorhänge aus Leinen, und die anderen Wagen sind offen, ohne jedes Dach. Der Amtmann Esser richtete einige Worte der Begrüßung und des Dankes an die Regierungs- und Gesellschaftsvertreter, um dann selbst an der Weiterfahrt nach Hamm teilzunehmen. Unter dem Geläute der Kirchenglocken begann das Dampfen und Stöhnen der Lokomotive, und ratternd quälte sich der Zug weiter.
aus: Heimatbuch der Stadt Herne, bearbeitet von Johannes Decker, Rektor in Herne, Herne 1927 (Reprint 1980), S. 108-110
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Quellen
- Heimatbuch der Stadt Herne, bearbeitet von Johannes Decker, Rektor in Herne, Herne 1927
- "Nichts ist so schön wie..." Geschichte und Geschichten aus Herne und Wanne-Eickel. Hrsg. Frank Braßel,Michael Clarke, Cornelia Objartel-Balliet. Essen 1991.