Religiöses Leben und Verwaltung der Synagogengemeinden
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Wie jede religiöse Gruppe brauchten auch die hiesigen Synagogengemeinden eine Leitung, die das religiöse Leben der Gemeinden organisierte. Die Synagogengemeinden Herne und Wanne-Eickel gaben sich zu diesem Zweck Satzungen, die festlegten, wie die Gemeindeleitung zu wählen sei und welche Aufgaben sie haben sollte. Durch die preußische Gesetzgebung waren bei der Gestaltung der Selbstverwaltung Richtlinien vorgegeben, sodass die Leitung der Gemeinden in Herne und Wanne-Eickel gleich aufgebaut war. Die Gemeindemitglieder wählten zunächst neun Repräsentanten, die gewissermaßen das Parlament der Synagogengemeinden darstellten.
Die Repräsentanten wiederum wählten den dreiköpfigen Vorstand, den man als die "Regierung" der Synagogengemeinde bezeichnen kann. Aus diesem Vorstand wurde der 1. Vorsitzende bestimmt, dem die Geschäftsführung der Gemeinde oblag. Alle Positionen hatten eine Amtsdauer von sechs Jahren.
In Herne und Wanne-Eickel waren, wie in den meisten deutschen Synagogengemeinden, nur Männer wahlberechtigt. Für die verschiedenen jüdischen Gruppen war es sehr wichtig, ihre Vertreter in die Repräsentantenversammlung und in übergeordnete Gremien zu entsenden.
Zwei Trennungsebenen waren auf der synagogenpolitischen Ebene zu unterscheiden. Auf der religiösen Ebene standen sich Liberale, Konservative, Mittelpartei, Reformjuden, Orthodoxe und ultraorthodoxe Separatisten (Trennungsorthodoxe) gegenüber. Weltanschaulich kämpften deutsch-jüdische Gruppen (Centralverein, Reichsbund jüdischer Frontsoldaten) mit zionistischen Gruppen (Jüdische Volkspartei, Poale Zion, Revisionisten, Misrachi) um die Wählerstimmen bei den Wahlen.
Inhaltlich ging es in den Auseinandersetzungen um Gebetsgestaltung, Sozialarbeit, Gottesdienstordnung, Synagogenausstattung und Gemeindestatuten. Im Verlauf der Weimarer Republik wurden die Wahlkämpfe immer polarisierter. Die Folge davon war, dass immer weniger Juden an Richtungskämpfen interessiert waren und der Wahlurne fernblieben. Lag die Wahlbeteiligung in Eickel 1913 noch bei 78,9 %, so sank sie im Stadtgebiet Wanne-Eickel auf 55,3 % im Jahre 1929 und auf nur 16,3 % im Jahre 1932.
Die Mehrheit der Repräsentanten in Herne und Wanne gehörte liberalen Gruppen an, die zum Beispiel für das Frauenwahlrecht in den Synagogengemeinden und für eine weitgehende Angleichung an die allgemeine Kultur in Deutschland eintraten. Im scharfen Gegensatz zu den um Assimilierung bemühten Liberalen standen die Zionisten, die in Herne und Wanne-Eickel durch die Jüdische Volkspartei vertreten wurden. Bis 1923 wuchs unter der Leitung von Meyer Schapiro und Salomon Salomon eine kleine zionistische Gruppe zusammen, die in regem Kontakt zu anderen Lokalgruppen im Ruhrgebiet stand. In Herne gelang es den Zionisten bei den Gemeindewahlen 1921 und 1926 nicht, einen Vertreter in die Repräsentantenversammlung zu entsenden, obwohl die jüdische Volkspartei ein Drittel der Wahlberechtigten vertrat. Durch ein Wahlrecht, das die zionistischen und ostjüdischen Gruppen benachteiligte, versuchten die jüdischen "Pohlbörger", die Synagogengemeinden nach ihren Vorstellungen zu leiten. Die Herner Ortsgruppe des Verbandes ostjüdischer Organisationen protestierte im Januar 1927 erfolglos gegen die Benachteiligung. Auf einer 1. Mai-Feier der ostjüdischen Arbeiter in Herne wurde die Hauptforderung noch einmal bekräftigt: "Bevor nicht die primitivste Forderung der Ostjuden auf eine gerechte demokratische Vertretung in der Gemeindearbeit erfüllt ist, können die Liberalen unmöglich von einem Frieden sprechen."
Aber auch untereinander waren sich die Zionisten nicht einig. Die ostjüdischen Industriearbeiter vertraten häufig eine sozialistisch-zionistische Linie, während westjüdische Kreise in Wanne-Eickel und Herne eher einem Kulturzionismus anhingen. Erst die Bedrohung durch den Nationalsozialismus ließ beide Gruppen zusammenrücken und eine Koalition für die Herner Repräsentantenwahl 1930 bilden: "Da wir Zionisten zu schwach waren, selbst einen Kandidaten durchzubekommen, so stimmten wir für die Liste der Ostjuden, die doch im Kern aktiv zionistisch denkt." Aufgrund dieser Koalition zog mit Bernhard Cynamon erstmals ein Zionist in die Herner Repräsentantenversammlung ein. Durch sein Wirken blieb das Wahlrecht der Synagogengemeinde Herne ein Dauerthema, das auch über Herne hinaus Beachtung fand.
Vor diesem synagogenpolitischen Hintergrund spielte sich das religiöse Leben der beiden Synagogengemeinden ab, das besonders am Sabbat und an den Feiertagen für die Gemeindemitglieder erlebbar wurde. Die jüdischen Feiertage richten sich nach dem jüdischen Kalender. Dieser ist eine Mischung aus Mondkalender (Islam) und Sonnenkalender (Christentum). Das Mondjahr hat 12 Monate mit 29 oder 30 Tagen und ist um 11 Tage kürzer als das Sonnenjahr. In einem reinen Mondkalender würden so die Feiertage in einer Periode von 30 Jahren einmal um den christlichen Kalender gewandert sein, wie der islamische Ramadanmonat.
Da die jüdische Religion aber auch jahreszeitlich bestimmte Feste kennt, so das Laubhüttenfest im Herbst, werden alle 19 Jahre sieben Schaltjahre eingeschoben. In diesen Jahren wird ein 13. Monat im März/April in den Kalender aufgenommen. Er heißt Adar 2 und wird an Adar 1 angehängt. Durch diese Korrektur passt sich der Mondkalender dem Sonnenkalender an, und die Feiertage bleiben stets in derselben Jahreszeit. Die religiösen Feiertage, dazu zählt auch der Sabbat als wöchentlicher Ruhetag, spielten im Leben der hiesigen Synagogengemeinden eine wichtige Rolle.
Das jüdische Kalenderjahr beginnt mit dem zweitägigen Neujahrsfest Rosch ha Schana (wörtlich Haupt des Jahres). Der Jahresbeginn wird theologisch gesehen als die Besinnung auf den großen Gerichtstag Gottes für die gesamte Menschheit. Darauf bezieht sich der jüdische Neujahrsgruß "Natiwa u Chetima towa" (Gute Schrift und gutes Siegel deiner Taten im Buch des Gerichts). Eingeleitet wird das neue Jahr im Mussaf-Gottesdienst, in dem die längsten Gebete des Jahres gelesen werden und das Schofarhorn geblasen wird. (3. Mose 23, 24/4. Mose 29,1).
Obwohl man weder in Herne noch in Wanne-Eickel einen eigenen Rabbiner hatte, wurden die Feste zu Beginn des Jahres stets mit großen Feierlichkeiten begangen. Der Wanner Kultusbeamte "Fritzler war jeden Samstag in einem schwarzen Talar und hoher, schwarzer Kopfbedeckung angezogen. Nur zu den hohen Feiertagen, die meist im September sind, war er ganz in weiß gekleidet", so die Erinnerung einer Zeitzeugin. In den Jahren vor der Gründung der Synagogengemeinde verpflichteten die Wanner Juden zu den Feiertagen einen Vorbeter von außerhalb, der die Predigten an Rosch ha Schana, Kol Nidre und Jom Kippur übernahm. Nach der Gründung der jüdischen Schulen in Herne und Wanne hatten die Lehrer diese Aufgabe mit zu übernehmen, da sie gleichzeitig auch als Kultusbeamte in den Gemeinden fungierten. Großer Wert wurde auf die musikalische Ausgestaltung der Feiertagsgottesdienste gelegt, die von den Kantoren, den Organisten und den Synagogenchören übernommen wurde.
Zehn Tage nach Neujahr ist der höchste Feiertag, Jom Kippur (Tag der Sühne), der den Gläubigen mit Gott und seinen Mitmenschen versöhnen soll. Er begann am Vorabend mit dem Gottesdienst Kol Nidre in den Synagogen von Herne und Wanne-Eickel. In diesem Gottesdienst wurden alle Gelübde, "die man im Laufe des Jahres freiwillig gegeben hat und nicht erfüllen konnte", aufgelöst. Jom Kippur selbst wurde mit Fasten und Beten begangen.
"Es gab wohl solche, die seltener ihr Gotteshaus besuchten, natürlich war an den hohen Feiertagen, dem Neujahr, Jom Kippur, den Wallfahrtsfesten die Synagoge bis auf den letzten Platz besetzt, aber an gewöhnlichen Freitagabenden gab es viele leere Pläitze. Dagegen kamen wohl alle Kinder. Am Sabbathmorgen kamen viele Gemeindemitglieder zum Gottesdienst, beeilten sich aber, schnell in ihre Geschäfte zurückzukehren, die geöffnet waren. Am Jom Kippur und Neujahrstag schlossen aber alle jüdischen Geschäfte. Es gab einige jüdische Angestellte in den jüdischen Geschäften im Ort, die zu den Gottesdiensten erschienen." Für die jüdischen Kinder war der lange Jom Kippur-Gottesdienst anstrengend. "Mit diesen waren wir besonders am Versöhnungstag den ganzen Tag zusammen. Wir saßen beim Gottesdienst, der ja den ganzen Tag dauerte, auf der Kinderbank zusammen; wenn es uns langweilig wurde, gingen wir auf die Straße, wo wir alle möglichen Spiele spielten und uns unterhielten“ (aus den Erinnerungen eines Zeitzeugen, Anmerkung des Verfassers).
Fünf Tage nach Jom Kippur wird Sukkot (Laubhüttenfest) gefeiert. Es umfasst einen Zeitraum von acht Tagen, wobei die beiden ersten und der letzte Tag die eigentlichen Feiertage sind. In der Wilhelminischen Zeit nahm die Kommunalverwaltung in Herne nicht nur auf die christlichen Feiertage Rücksicht. So wurde in Herne auf Sukkot kein Wochenmarkt gehalten, sondern auf einen anderen Tag verschoben. Für die Schulkinder war Sukkot immer ein besonderes Ereignis: "Wenn unser Laubhütten-Fest kam, haben wir im Schulhof die Laubhütte aufgestellt, und alle Kinder haben sie ausgeschmückt. Mit viel Obst und Nüssen, die von der Decke hangen, und viele Bilder haben wir an den Wänden aufgehängt. Die ganze Gemeinde ist dann gekommen und hat unser Werk bewundert. Acht Tage feiern wir das Fest. Wir essen und trinken in der Laubhütte.“ Am letzten Tag des Sukkotfestes wurden das Ende und der Anfang des jährlichen Torazyklus gefeiert. In Herne wurde dieses Fest der Tora (Zimchas-Tora) mit einem Festball abgeschlossen.
Am Chanukka-Fest wird deutlich, dass jüdische Feste in einem gewissen Rahmen von christlichen Gebräuchen beeinflusst sein konnten. Chanukka fällt zeitlich mit der Advents- und Nikolauszeit zusammen. Ursprünglich gehörte das Fest nur zu den Halbfeiertagen; durch den Einfluss der christlichen Schenkungsbräuche bürgerte es sich im hiesigen Raum ein, dass auch jüdische Kinder zu Chanukka beschenkt wurden. Die manchmal gebrauchte Wortschöpfung "Weihnukka" gibt diese Verschmelzung wieder. Chanukka wird acht Tage lang gefeiert, wobei jeden Abend eine weitere Kerze des Chanukka-Leuchters angezündet wird. Die theologische Wurzel des Festes als Erinnerung an die Weihe (Chanukka = Einweihung) des Zweiten Tempels in Jerusalem (167 v. Chr.) war bei einem Teil der Herner und Wamme-Eickeler Juden in den Hintergrund getreten. Die Herner Gemeinde traf sich in den 1920er Jahren zu Chanukka im Hotel Schlenkhoff, um dort das Fest gemeinsam zu begehen.
Das Purimfest wird zur Erinnerung an die im alttestamentlichen Buch Esther beschriebene Befreiung der Juden aus persischer Gefangenschaft gefeiert. Es ist eine Art Karneval mit Umzügen, Verkleidungen und feucht-fröhlichen Feiern. Das Besondere an Purim in Herne und Wanne: Eickel war, dass es sich nicht nur auf die Synagoge oder die jüdische Schule beschränkte, sondern öffentlich auf den Straßen gefeiert wurde. Die Nationalsozialisten konnten dieses jüdische Fest für ihre antisemitische Propaganda ausnutzen, da die meisten Einheimischen dieses Fest aus eigener Anschauung kannten. So mussten Herner und Wanne-Eickeler 1933 die Nazi-Version des biblischen Esther-Buches in ihrer Zeitung lesen: "Denkt an das Purimfest, das noch heute als höchstes jüdisches Fest zum Andenken daran gefeiert wird, dass der antisemitische persische Reichskanzler Hamann und 70.000 der edelsten Perser durch eine jüdische Königsbuhle für jüdische Rache dahingeschlachtet wurden." Die Mitglieder der Herner Synagogengemeinde trafen sich zu Purim im Hotel Schlenkhoff zu einem großen Festball.
Das einwöchige Passafest (Pessach) wird zur Erinnerung an die Nacht vor dem Auszug der Israeliten aus Ägypten gefeiert. Dabei werden in einer häuslichen Feier die entsprechenden Bibelstellen vorgelesen. Man isst ungesäuertes Brot und Bitterkräuter, die an die Zeit der Sklaverei erinnern. Es ist das letzte Fest im jüdischen Jahr. Der familiäre Charakter des Festes kommt auch darin zum Ausdruck, dass christliche Nachbarn einbezogen wurden: "Zu Pessach pflegten wir den Nachbarn immer ein Paket mit Mazzen zu schenken. Dafür schenkten sie uns Neujahrshörnchen und/oder -waffeln, die sie extra unseretwegen mit Butter backten."
Am Freitagabend beginnt für Juden der Sabbat, der bis zum Sonnenuntergang des folgenden Tages dauert. Damit erinnert man an den siebten Schöpfungstag, den ersten Sabbat, und feiert ihn mit einer festlichen Mahlzeit und einem Besuch in der Synagoge. "Besonders schön waren unsere Freitagabende und die Vorabende der anderen jüdischen Feste. War die Wohnung auch während der ganzen Woche in malerischer Unordnung, sobald der festliche Tisch gedeckt war, die feierlich entzündeten Kerzen brannten, herrschte friedliche Ordnung. Wir waren nach dem Gottesdienst von den Eltern gesegnet worden, unsere guten Anzüge hinderten uns daran, uns schmutzig zu machen, was mehr oder weniger mit unseren Spielen verbunden war - kurz, bis zum Ende des Tischgebetes und der dann gesungenen liturgischen Lieder waren wir die artigsten Kinder, die man sich vorstellen konnte“, so der Bericht eines Zeitzeugen.
Neben den Gottesdiensten für die Erwachsenen gab es in Wanne-Eickel unter dem letzten Lehrer Max Fritzler einen besonderen Gottesdienst für Kinder: "In der Synagogengemeinde war ein neuer Kantor und Lehrer tätig, der mich zu jüdischer Gemeindetätigkeit beeinflusste. Ich leitete jeden Sabbath-Nachmittag einen Kindergottesdienst, der nur von Kindern ohne den Vorbeter geführt wurde, der nur eine kurze Predigt-Ansprache hielt." Der wichtigste Tag im religiösen Leben jungen Juden ist der, an dem er "gebotspflichtig" wird. Im Gemeindeleben wird er damit, mit Ausnahme des Wahlrechts, den Erwachsenen gleichgestellt. Eine Zeitzeugin erinnert sich: "Bei uns werden Jungens mit 13 Jahren konfirmiert und das heißt Bar Mizwah. So kann ich mich genau erinnern, dass mein Bruder Fredi in der Synagoge in Wanne Bar-Mizwah hatte. Die Jungens werden zur heiligen Thora (das ist die Gebetsrolle) aufgerufen und müssen daraus lesen und singen. Das ist sehr schwer. Darum muss der Junge vor der Bar-Mizwah einige Monate dafür lernen. Auch diesen Unterricht hat Herr Fritzler gegeben Bei einem Mädchen ist es anders als bei uns. Das Mädchen wird mit 12 Jahren konfirmiert. Ich weiß genau, wie ich in Wanne konfirmiert wurde. Die Konfirmation heißt bei Mädchen Bath-Mizwah, und es war eine herrliche Feier in der Synagoge. Alle Mädchen, die Bath-Mizwah hatten, waren sehr elegant und feierlich gekleidet. Diese schönen Erinnerungen bleiben fürs ganze Leben."
Die Bar-Mizwah oder Bath-Mizwah ihrer Kinder war für einige wohlhabendere Familien Anlass, der Synagogengemeinde Kultgegenstände zu spenden. So konnten z. B. Thorarollen durch einen Thoramantel geschützt werden oder eine schadhaft gewordene Rolle ersetzt werden.
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Quellen
Sie werden nicht vergessen sein - Geschichte der Juden in Herne und Wanne-Eickel (Ausstellungsdokumentation), Herausgeber: Der Oberstadtdirektor der Stadt Herne, 1987