Hernes Kampf um Sodingen und um seine Selbständigkeit
Der Zeitabschnitt von 1928—1933, der in der vorliegenden Arbeit zur Darstellung gelangt, beginnt mit einem Höhepunkt der Herner Stadtgeschichte. Nach jahrelangen, zähen Bemühungen war es endlich gelungen, die Eingemeindung des Amtes Sodingen mit seinen drei Gemeinden Sodingen, Börnig und Holthausen gegen die Wünsche Castrop - Rauxels durchzusetzen (Gesetz über die weitere Neuregelung der kommunalen Grenzen im westfälischen Industriebezirk vom 22. März 1928, § 3 GS S. 17). Das bedeutete einen Zuwachs um 984,4 ha und 23 543 Einwohner, so dass Herne mit jetzt 93 730 Einwohnern unmittelbar an die Grenze der Großstadt rückte.
Ein Blick auf die Geschichte des Eingemeindungskampfes zeigt, wie lang der Weg war, bis das von zwei Seiten so eifrig umworbene Amt endlich seine Selbständigkeit aufgab und sich dem größeren Nachbarn Herne anvertraute. Schon seit der Gründung des Amtes im Jahre 1902 hatte Herne sich mit Eingemeindungsplänen für das landschaftlich, wirtschaftlich und siedlungspolitisch bevorzugte Gebiet getragen. 1907 nannte die Herner Presse anlässlich eines Castroper Vorstoßes diesen Streit bereits ein altes Thema. Der 1. Weltkrieg brachte zwar eine zwangsläufige Ruhepause, aber schon 1919 war die Frage nach der Eingemeindung Sodingens wieder aktuell.
Groß-Sodingen ?
Im Amt jedoch dachten die führenden Männer gar nicht daran, sich Hernes Wünschen zu fügen. Groß-Sodingen hieß dort die Parole. Die drei Gemeinden des Amtes wollten ein selbständiges Gemeinwesen bilden und glaubten sich unter Hinweis auf die günstige Lage am Kanal und den industriellen Aufschwung zu blühenden Zukunftshoffnungen berechtigt. Währenddessen wurde Herne, das durch eine Verbindung mit Sodingen Aussicht auf baldige Großstadtwerdung hatte, in seinem Werben immer dringender. Am 9. November 1920 trat es mit einem offiziellen Eingemeindungsantrag an die Sodinger Gemeindeväter heran. Diese aber lehnten entschieden ab. Im gleichen Jahre machte Castrop seine Ansprüche geltend und verlangte Holthausen, da es eine westliche Erweiterung suchte, nachdem sich seine Hoffnungen auf Frohlinde, Merklinde und Bövinghausen zu erfüllen schienen. Diese östlich Castrops gelegenen Gemeinden drohten nämlich seine Stellung als Kern eines neuen Stadtgebildes zu gefährden. Im November 1921 dehnte Castrop sein Verlangen auf Börnig aus. Einen Monat früher hatte Sodingen einen neuen Antrag Hernes abgewiesen.
Daraufhin wollte Herne den Sodingern zeigen, wie abhängig sie in Wirklichkeit von ihrem Nachbar seien, und verweigerte die Aufnahme der „auswärtigen" Sodinger Kinder in die höhere Schule. Aber die Sodinger ließen sich dadurch nicht einschüchtern und waren jetzt erst recht nicht zu einer Verständigung bereit. Sie errichteten eine eigene Rektoratschule.
Indessen schaute Castrop weiterhin begehrlich nach Westen. Im Oktober 1925 begründete es seine Forderungen wie folgt: „Die Gemeinden des Amtes Rauxel und andere Gemeinden im Osten und Norden von Castrop haben beschlossen, sich mit Castrop zu einer Mittelstadt zu vereinigen, welche etwa 54 000 Einwohner zählen würde. Zur Lebensfähigkeit des Neugebildes ist die Angliederung des Ostteiles des Amtes Sodingen unbedingt erforderlich."
Alle Eingemeindungsbestrebungen von Herner und Castroper Seite wurden aber erneut durch die Gemeindevertretungen von Sodingen, Börnig und Holthausen energisch zurückgewiesen.
Der Landtag macht Versprechungen
Zu Beginn des Jahres 1926 nahm der Kampf eine völlig neue Wendung. Das Gesetz über die Neu-regelung der kommunalen Grenzen im rheinischwestfälischen Industriebezirk vom 26. Februar 1926 (GS S. 53), durch das u. a. die Städte Wanne-Eickel und Castrop-Rauxel geschaffen wurden, brachte Herne eine große Enttäuschung. Seine Forderungen auf Riemke, Hiltrop und Bergen wurden nicht erfüllt. Außer Grenzbegradigungen vor allem gegenüber Recklinghausen und Wanne-Eickel wurde ihm lediglich das Riemker Gebiet nördlich der Anschlußbahn der Zeche Constantin zugesprochen. Herne erhielt von Riemke, Wanne-Eickel, Pöppinghausen und Recklinghausen insgesamt 220,3 na mit 2481 Einwohnern und gab nach Wanne-Eickel und Recklinghausen 40,7 ha mit 858 Einwohnern ab.
Als Ausgleich für diese magere Berücksichtigung seiner Ausdehnungswünsche wurde Herne die Zuweisung Sodingens versprochen. Der Landtag beauftragte bei der Verabschiedung des 1. Ruhrgesetzes die Staatsregierung, ihm möglichst bald ein Gesetz über die Vereinigung des Amtes Sodingen mit Herne unter Grenzberichtigung nach Castrop-Rauxel vorzulegen. Die Sodinger Gemeindevertreter erkannten jetzt, dass eine gesetzliche Eingemeindung nahe bevorstand und alle ferneren Weigerungen fruchtlos sein würden.
Abschluss des Eingemeindungsvertrages
Darum fanden sie sich am 4. Februar 1926 zum ersten Mal zu informatorischen Besprechungen mit der Herner Stadtvertretung zusammen. „Wenn schon die Eingemeindung unausbleiblich ist, so wollen die drei Gemeinden auf jeden Fall zusammenbleiben und ungeteilt nach Herne kommen" — so lautete ihre Forderung. Am 7. Juli waren die Verhandlungen soweit gediehen, dass ein Eingemeindungsvertrag zwischen Herne und dem Amte Sodingen abgeschlossen wurde. Darin verpflichtete sich Herne u. a., für die Unterhaltung der Straßen und Bürgersteige der drei Gemeinden jährlich mindestens 60 000 Mark aufzuwenden (§ 4), in den kommenden 10 Jahren keinen Schlachthofzwang im Amt auszuüben (§ 1) und dem katholischen Krankenhaus in Börnig für ungedeckte Fehlbetrage jährlich bis zu 15 000 Mark zuzuschießen (§ 6). Die im Entstehen begriffene Rektoratschule des Amtes sollte mit einer der in Herne vorhandenen höheren Knabenschulen vereinigt werden. Für die Aufnahme dieser Anstalt war innerhalb von 2 Jahren ein neues Schulgebäude an der Grenze zwischen Sodingen und Herne zu errichten (§ 3). Die Wirtschaftskrise der Folgejahre machte jedoch die Erfüllung dieser Bedingung unmöglich.
So hätte einer Eingemeindung, die am 1.4.1927 erfolgen sollte, nichts mehr im Wege gestanden, wäre nicht die Frage nach der Existenzfähigkeit des Landkreises Dortmund, zu dem das Amt Sodingen gehörte, akut geworden. Gleichzeitig wünschte nämlich Castrop-Rauxel die Kreisfreiheit zu erlangen, Dortmund wollte sich auf Kosten des Landkreises ebenfalls vergrößern und verlangte außerdem die Stadt Hörde. Mit diesem Problem wurden ferner die Fragen der Schaffung von Groß-Bochum und der Vereinigung von Gelsenkirchen und Buer verquickt, wodurch sich die Lösung noch fast 2 Jahre hinausschob. Auch machte Castrop-Rauxel erneut seine Ansprüche auf Holthausen und Börnig geltend. Die Abwehr dieser Forderungen hielt die Öffentlichkeit bis zum Schluss in Atem und verlangte besonders viel Nerven und Arbeitsaufwand.
Der Zankapfel Teutoburgia
Das Hauptargument, mit dem Castrop-Rauxel operierte, betraf die Zeche Teutoburgia, die 1926 aus den Händen des Bochumer Vereins in den Besitz der Vereinigten Stahlwerke übergegangen war, denen auch die Zeche Erin in Castrop-Rauxel gehörte. Teutoburgia, 1925 vom Bochumer Verein stillgelegt, sollte nun vom Grubenfeld Erin her ausgebeutet und beide Zechen sollten zu einem einheitlichen Bergwerksbetrieb zusammengefasst werden. Das, so erklärte Castrop-Rauxel, erfordere unbedingt die Eingemeindung der Zeche und Arbeiter Kolonie Teutoburgia in sein Gemeinwesen.
Eingehend wies die Gegendenkschrift der Stadt Herne vom 3.11.1926 die Überspitzung des Castrop-Rauxeler Verlangens nach. Dreiviertel der Bewohner der Kolonie Teutoburgia, so argumentierte Herne, seien zur Zeit auf Mont Cenis, Friedrich der Große und Constantin angelegt, also Zechen, die demnächst sämtlich in dem größeren Herne liegen würden. Für sie könne also bei einer Eingemeindung nach Castrop-Rauxel von einer Vereinigung von Arbeitsstätte und Wohnort in einer Kommune nicht gesprochen werden. Dasselbe gelte für die Siedlung Mont Cenis, die ebenfalls in dem von Castrop-Rauxel gewünschten Gelände liege. Vielmehr werde hier der Übelstand, auf den man als Eingemeindungsgrund hinweise, erst geschaffen. Noch einleuchtender schienen folgende Tatsachen: Castrop-Rauxel erhielte bei Erfüllung seiner Forderungen alle 4 Holthauser Volksschulen, doch nur einen Teil der Schüler. Umgekehrt fiele die Holthauser katholische Kirche Herne zu, während ein Großteil der Katholiken nach Castrop-Rauxel umgemeindet würde. Genauso lägen die Dinge beim Kommunalfriedhof. Herne hatte außerdem für sich anzuführen, dass es das Amt Sodingen bereits mit elektrischem Strom und Gas versorge, der bauliche Zusammenhang mit Herne sehr eng und das Amt entwässerungstechnisch zum großen Teil auf die Herner Kanalisation angewiesen sei.
Der Gemeindeausschuß des Landtages in Herne
Am 17. März 1927 war die Regierungsvorlage fertiggestellt. Sie wurde vom Staatsrat nach einer Bereisung des strittigen Gebiets am 19.11.1927 angenommen. Gegen Jahresende gestalteten sich aber die Verhandlungen wegen der Einbeziehung der Probleme Groß-Dortmund, Groß-Bochum und Gelsenkirchen-Buer so schwierig, dass das Zentrum ankündigte, eine Zurückstellung bis zur Generallösung im gesamten Industriegebiet im Landtag beantragen zu wollen. Am 10.1.1928 kam der Gemeindeausschuß des Landtages ins Ruhrgebiet. Am 11. 1. 1928 war er in Herne, wo eine große Sitzung im Rathaus stattfand, bei der alle Partner ihre Wünsche und Argumente vortragen konnten. Hier setzte sich vor allem der Ruhrsiedlungsverband für Herne ein mit dem Hinweis, dass es bei der Umgemeindung zunächst um die Siedlungspolitik gehen müsse. Herne habe eine Wohndichte von 36,5 Einwohnern auf 1 ha, Castrop-Rauxel von 12, Sodingen von 19. Herne brauche also Siedlungsland. Nach der Vereinigung würde die Dichte 33 Einwohner auf den ha betragen, Herne also noch immer ungünstiger abschneiden als sein Nachbar.
Am folgenden Tage befasste sich der Ausschuss mit dem Problem Groß-Bochum. Im Falle einer Fusion der beiden Landkreise Hattingen und Bochum oder der Eingemeindung des Bochumer Landkreises nach Bochum trug der Herner Oberbürgermeister Täger die Wünsche der Stadt auf Gerthe vor. Nach der Rückkehr nach Berlin erklärte sich der Gemeindeausschuß für die Regierungsvorlage.
Beinahe gescheitert
Doch noch frohlockte man zu früh. Am 8. Februar kam ein unerwarteter Rückschlag. Auf den Generallösungsantrag des Zentrums hin verwies der Landtag die Vorlage an den Gemeindeausschuß zurück. Pessimistische Stimmen wollten darin eine Hinauszögerung möglicherweise auf Monate und Jahre sehen. Aber selbst die Zuversichtlichsten hätten nicht die günstige Wendung zu erhoffen gewagt, die das Projekt kurze Zeit später erfuhr. Schon am 6. und 7. März 1928 wurde das Gesetz in 2. und 3. Lesung angenommen und am 22. März 1928 verkündet (GS S. 17).
Herne erhielt das ungeteilte Amt Sodingen und musste lediglich das Gelände der Klöckner-Werke nördlich von Teutoburgia an Castrop-Rauxel abtreten. Dafür erhielt es den Hafen der Zeche Mont Cenis am Kanal und einen 50 m breiten Geländestreifen im Osten entlang der Bruchstraße, was einem Austausch von 17 ha gegen 17 ha gleichkam (GS S. 21, Anlage B). Der Landkreis Dortmund wurde aufgelöst (§ 1 GS S. 17), der Restkreis und die Stadt Hörde mit Dortmund verschmolzen (§§ 2, 7 GS S. 17, 18). Die Frage der Landkreise Bochum und Hattingen wurde der Generallösung überlassen. So endete der Kampf um Sodingen mit einem vollen Erfolg der Herner Seite. Am 1. April 1928 wurde dann die kommunalpolitische Ehe geschlossen und das heißumstrittene Amt in das Herner Gemeinwesen feierlich aufgenommen.
Eingemeindung von Oestrich und Kray
Die Bewältigung der innerkommunalen Aufgaben, welche sich durch die Auflösung der Amtsverwal-tung ergaben, hätte eine Zeit der Ruhe unbedingt erforderlich gemacht. Aber diese von allen Beteilig-ten erhoffte Ruhe trat nicht ein. Noch einmal verlangte die vom Landtag angestrebte Generallösung gespannte Abwehrbereitschaft. Diesmal ging es nicht nur um eine Abrundung des Stadtgebiets, sondern um die nackte Existenz als selbständiges Gemeinwesen.
Bei der Neugliederungsvorlage, deren Bereich sich von M.-Gladbach bis Iserlohn und von Haltern bis Remscheid erstreckte, handelte es sich um die größte, die jemals dem preußischen Gesetzgeber zur Entscheidung vorgelegen hatte, betraf sie doch ein Gebiet von 850 000 ha mit 6,3 Millionen Ein-wohnern, das bedeutete 16 °/o der Bevölkerung des gesamten preußischen Staates.
Mittelstadt — Millionenstadt
Die Beweggründe zu dieser umfassenden Reformbewegung standen mit dem industriellen Aufschwung an Rhein und Ruhr in engem Zusammenhang. Den Städten waren ihre Grenzen zu eng geworden, sie brauchten Raum, um sich auszudehnen, Siedlungsgelände für die ständig zunehmende Bevölkerung, finanziellen Lastenausgleich mit günstigergestellten Nachbarn. Durch gemeinsame Lösung größerer überkommunaler Projekte, Rationalisierung der Verwaltung, Verkehrspolitik auf erweiterter Grundlage usw. hoffte man, die Lage des einzelnen Bürgers wie auch der Kommunen zu bessern. Natürlich waren es vor allem die Großstädte, die auf Kosten ihrer kleineren Nachbarn noch größer werden wollten. Es fehlte nicht an Beweisführungen, die den davon betroffenen diese Maßnahmen schmackhaft machen sollten. Doch die Mittelstädte waren auf der Hut und spürten sehr wohl, dass die geringsten Konzessionen in Bezug auf einen Zweckverband oder eine Interessengemeinschaft am Ende zu einer Aufsaugung durch die Großstädte führen müssten. So spaltete sich bei dem nun einsetzenden Kampf das kommunale Lager einerseits in die Partei der Großstädte, die noch mehr haben, und anderseits in die Partei der mittleren und kleinen Städte, die ihre Selbständigkeit behaupten wollten.
Die Mittelstädte hielten den eingemeindungshungrigen Großstädten entgegen, dass in den geplanten Mammutgebilden der lebendige Zusammenhang zwischen Bevölkerung und Verwaltung verloren-gehen und das Interesse an der Gemeindepolitik erlahmen müsse, die schließlich mechanisiert und bürokratisiert werden würde. Als aufblühenden Kultur- und Wirtschaftszentren würden ihnen, den Mittelstädten, in einem Großgebilde die Aktionsmöglichkeiten genommen, während die Einsparung der Verwaltungskosten, wenn sie überhaupt eintreten würde, in keinem Verhältnis zu dem geistigen Verlust stünde.
Wie ernst es der Regierung mit einer baldigen Lösung des Problems war, zeigte sich bereits im Mai 1928. Vom 4. bis 18.5. befand sich Ministerialdirektor von Leyden auf Besichtigungsreise im rheinisch-westfälischen Raum, kam jedoch trotz vorheriger Ansage nicht nach Herne. Im Bochumer Parkhaus wurde ihm das von Bochum verfochtene Projekt der Ruhrstadt (Vereinigung von Bochum, Wanne-Eickel, Herne, Wattenscheid, des halben Landkreises Hattingen und des Kreises Bochum) vorgetragen, während Herne sich für die Bildung einer Kanalstadt, bestehend aus Herne und Wanne-Eickel, einsetzte. Auch der Direktor des Ruhrsiedlungsverbandes, Dr. Schmidt, machte sich zum Befürworter dieser Kanalstadtbildung, er wünschte sogar noch den Anschluss Castrop-Rauxels durch Bildung eines Zweckverbandes.[Anmerkungen 1]
Die Politik der "4 Interessenscheiben"
Besonders viel Staub wirbelte ein Artikel des Ministerialrats Dr. Frielinghaus aus dem preußischen Handelsministerium auf, den er in der Zeitschrift „Rhein und Ruhr" veröffentlichte. In diesem Artikel schlug er die Aufteilung des Industriegebietes in 4 Interessenscheiben mit den Kernen Duisburg, Essen, Bochum und Dortmund vor. Für die Verwaltung der umfangreichen „Scheiben" wies er drei Möglichkeiten nach: x. Die einzelnen Kommunen bleiben selbständig. Sie bilden für bestimmte Aufgaben einen Zweckverband mit besonderer Verwaltung, deren Leitung in Personalunion mit der Leitung der Großstadt vereinigt wird. 2. Die einzelnen Kommunen wachsen zu einer Einheitskommune zusammen, die sich auf die Wahrnehmung gewisser Aufgaben beschränkt. Alle übrigen Aufgaben werden durch die Einzelkommunen erledigt, die eigene Verwaltungsbezirke darstellen. 3. Die Kommunen schließen sich zu einer Einheitsstadt zusammen. Die Großstadt übernimmt alle Aufgaben mit Ausnahme solcher, die sie auf Grund einer Satzung an die bisherigen Kommunen als Verwaltungsbezirke delegiert.
Ein Gutachten der Handelskammer Bochum eignete sich diese Gedankengänge an und trat insbesondere für die Bochumer Ansprüche ein. Zentrumspartei, Sozialdemokraten und Deutschnationale Partei machten sich zu Anwärtern der Mittelstädte. Diese gründeten am 8.8.1928 die Arbeitsgemeinschaft der Mittelstädte, um den Großstadtwünschen geschlossenen Widerstand entgegensetzen zu können.
Waren Besprechungen, Gutachten und Protestkundgebungen bisher noch als Vorgeplänkel anzusehen gewesen, so trat das Neuordnungsproblem am 15. August 1928 in sein erstes entscheidendes Stadium. Zu diesem Termin hatten alle kraft ihres Amtes dazu berufenen oder von der Regierung beauftragten Stellen ihre Vorschläge einzureichen. Dies waren die Oberpräsidenten von Westfalen und der Rheinprovinz, die drei Regierungspräsidenten von Düsseldorf, Münster und Arnsberg, der Verbandspräsident des Siedlungsverbandes Ruhrkohlenbezirk und der Verbandsdirektor des Ruhrsiedlungsverbandes.
Herne verteidigt das Projekt „Kanalstadt"
Einen Tag vor Ablauf der Frist kam am 14. August 1928 die Herner Eingemeindungsdenkschrift heraus. Sie bildete die Grundlage aller künftigen Argumentationen. Nachdrücklich wurde darin der wesensmäßige Unterschied in der Struktur der Ruhr- und Emscherstädte hervorgehoben. Während die Entwicklung der Ruhrstädte viel früher eingesetzt habe und bereits eine gewisse Sättigung zeige, seien die Emscherstädte noch nicht so weit fortgeschritten, auch sei ihre Basis viel ausschließlicher auf die Kohle und die Verwertung ihrer Nebenprodukte eingestellt als die der Ruhrstädte. Eine Zusammenlegung könne daher die Entwicklung der Emscherstädte nur nachteilig beeinflussen. Zweckmäßig und zukunftsträchtig sei demgegenüber eine Verbindung der Emscherstädte untereinander. Vorsichtig, aber angelegentlich wird sodann das Projekt „Kanal-Stadt" verfochten, für das Herne Wanne-Eickel, Recklinghausen-Süd und Castrop-Rauxel gewinnen wollte. In diesem Plan fand sich das Gegengewicht zu dem Bochumer Eingemeindungshunger. Sollte es tatsächlich zur Schaffung weniger Großstädte kommen, so rechnete man, dann wäre die „Kanalstadt", in der alle Partner gleichberechtigt sein würden, immerhin vernünftiger als das Bochumer Mammutgebilde.
Allerdings trafen diese Gedanken bei Wanne-Eickel auf wenig Gegenliebe, Castrop-Rauxel wehrte heftig ab und erklärte, wenn schon zu wählen sei, gehöre es eher zu Dortmund. Nicht zuletzt war die Abwehrstellung auf die Tatsache zurückzuführen, dass Herne in der neuen Kanalstadt im Zentrum gelegen hätte und die Nachbarn Hegemoniegelüste Hernes befürchteten.
Eingemeindungswünsche
In der Denkschrift erhob Herne nach Zurückweisung der Bochumer Wünsche seinerseits Anspruch auf Recklinghausen-Süd, das Amt Grethe, Bergen mit anschließendem Zillertal und die 1926 an Wanne-Eickel abgegebene Rottbruchstraße, wo sich wegen der Schulverhältnisse und des Verkehrs mit der Stadtverwaltung große Schwierigkeiten ergeben hatten.
Auch die übrigen betroffenen Städte gaben Denkschriften heraus, die mit der Zeit zu einer wahren Flut anschwollen. Im November forderte der Oberbürgermeister von Gelsenkirchen-Buer, das zur Interessenscheibe Essen geschlagen werden sollte, statt 4 Interessenscheiben 7, und zwar so, dass zwischen zwei Hellwegstädten je eine neue Interessenscheibe eingefügt würde. Im einzelnen waren das die Gutehoffnungshütte-Stadt, Gelsenkirchen-Buer und die Kanalstadt, diesmal mit Herne, Castrop-Rauxel und Recklinghausen, da Wanne-Eickel für Gelsenkirchen-Buer beansprucht wurde. Das war natürlich keineswegs nach Hernes Geschmack, da Recklinghausen zu dieser Zeit einen finanziellen Engpaß zu überwinden hatte und eine erhebliche Belastung für die Partner dargestellt hätte. Castrop-Rauxel erklärte sich ebenfalls gegen diese Pläne und betonte nochmals seinen Willen, unter allen Umständen die Selbständigkeit wahren zu wollen.
6 Oberbürgermeister teilen das Fell unter sich
Da wirkte Ende November eine Mitteilung der Kölnischen Volkszeitung wie ein Alarmsignal. Diese schrieb: „Die Oberbürgermeister der Großstädte Dortmund, Bochum, Essen, Gelsenkirchen-Buer, Duisburg und Düsseldorf haben über die kommunale Neugliederung des rheinisch-westfälischen Industriegebiets gemeinsame Verhandlungen gepflogen. Die eingehenden Beratungen haben durch unterschriftlich Bekräftigung zum Abschluss eines Abkommens geführt. Zweck und Ziel der Vereinba-rungen sind: Aufteilung des gesamten Raumes zwischen Dortmund und Düsseldorf unter die 6 genannten Großstädte unter Auflösung der in dieses Gebiet sich einschiebenden Landkreise und Mittelstädte." Für Bochum bedeutete das den Zusammenschluss mit Herne, Wanne-Eickel, Wattenscheid, dem Landkreis Bochum, dem nördlich der Ruhr gelegenen Teil des Landkreises Hattingen einschließlich eines Streifens südlich der Ruhr.
Also, während man noch verhandelte, hatten die 6 „großen Oberbürgermeister" das Fell bereits unter sich verteilt. Am 1. Dezember fanden sich die überrumpelten Oberbürgermeister, Landräte und Bürgermeister des rheinisch-westfälischen Industriegebietes zu einem entschiedenen Protest in Essen zusammen. Dasselbe taten die Mittelstadtvertreter am 2. Dezember in Wattenscheid.
Da der preußische Innenminister Grzesinski bei der Bereisung des Umgemeindungsgebietes am 6. Dezember 1928 in Herne erwartet wurde, berief der Magistrat am 4. Mai. eine außerordentliche Stadtvertretersitzung ein, auf der die Herner Wünsche erneut genannt und begründet wurden. Auch wurde eine Entschließung zu dem Gesetzesvorschlag des Innenministeriums gefasst. Bei den Besprechungen im Bochumer Parkhaus lehnte der Minister zur allgemeinen Erleichterung den Plan der 6 Oberbürgermeister ab, ließ auch erkennen, dass ein Groß-Bochum mit Einbeziehung der Emscherstädte nicht in Frage komme und Herne seine Selbständigkeit behalte. Zugleich machte er Herne aber keine Aussichten auf Erfüllung seiner Grenzerweiterungswünsche.
Wo der vollständige kommunale Zusammenschluss sich als undurchführbar erwiesen hatte, befürwortete der Innenminister die Schaffung von zwischengemeindlichen Arbeitsgemeinschaften. Diese waren nach seinen Darlegungen nicht als Organisation mit neuem Verwaltungsapparat gedacht, sondern bezweckten die freiwillige Zusammenarbeit der beteiligten Städte, wobei die selbständig bleibenden Verwaltungen auf Grund vernünftiger Übereinkunft Gemeinschaftsarbeit leisten sollten. Für eine solche Arbeitsgemeinschaft sah der Minister im Raum zwischen Bochum und Dortmund vor: Gelsenkirchen-Buer, Bochum, Wattenscheid, Wanne-Eickel, Herne, Castrop-Rauxel und Dortmund.
Der Zeppelin soll helfen
„Die Umgemeindungskommission beabsichtigt, statt der Rundreise das Gebiet mit dem Zeppelin zu überfliegen" — diese sensationelle Nachricht beschäftigte zu Beginn des neuen Jahres die Zeitungen. Diese sprachen von verspätetem Silvesterulk oder verfrühtem Aprilscherz, brachten eine Menge Bedenken sachlicher und technischer Natur vor und rieten dringend von einem solch kostspieligen Unternehmen ab. Wenn man sich schon nichts vom „grünen Tisch" zudiktieren lassen wolle, so seien aus der „blauen Luft" gegriffene Entscheidungen noch verdächtiger. Der flugfreudige Innenminister ließ sich nicht so leicht überzeugen. Er schickte den Kommunaldezernenten des Regierungspräsidenten in Arnsberg mit einem Flugzeug auf Probefahrt. Diese verlief aber trotz des sichtigen Wetters so negativ, dass der Minister endlich sein Vorhaben aufgab.
Indessen herrschte in Berlin Hochbetrieb. Deputationen der Gemeinden suchten die Volksvertreter über ihre Bedürfnisse aufzuklären, in den Fraktionszimmern häuften sich die Denkschriften, deren Umfang zwischen einer kleinen Broschüre und dickleibigen Folianten schwankte, aber Genaues konnte niemand über die mutmaßliche Entscheidung erfahren. Ein Kabinettsmitglied gab zu, dass niemand mehr als die Regierung selbst darauf gespannt sei, welches Gesicht die Eingemeindungsvorlage tragen werde, nachdem Staatsrat und Preußenparlament daran herumgearbeitet hätten.
Vom 6. bis 14. März 1929 weilten der Staatsrat und der Gemeindeausschuß im Umgemeindungs-gebiet, am 7. März in Bochum, wo Oberbürgermeister Ruer noch immer an seinen weitgehenden Forderungen festhielt. Am 26. April war die Vorlage endlich reif, um dem Landtag unterbreitet zu werden. Im Juni unternahm der Gemeindeausschuß eine letzte abschließende Reise durch das rheinischwestfälische Industrierevier. Am 10. Juli 1929 wurde das Gesetz über die kommunale Neugliederung des rheinisch-westfälischen Industriegebiets verabschiedet, am 29. Juli 1929 wurde es verkündet (GS S. 91).
Das Neugliederungsgesetz
Hernes Selbständigkeit blieb unangetastet, aber der Gebietszuwachs war im Verhältnis zu den Forderungen kläglich. Nur Oestrich und Kray mit 145 ha und 1114 Einwohnern wurden ihm zugestanden (§ 48, 1 b GS S. 98). Bochum sah zwar seine Riesenstadtutopie nicht verwirklicht, konnte jedoch Gerthe, Somborn, Langendreer, Werne, Laer, Querenburg, Stiepel, Linden-Dahlhausen und den Nordteil der Landgemeinde Winz einstreichen (§ 48 GS S. 98). Die Landkreise Bochum und Hattingen wurden aufgelöst. Recklinghausen, das sich durch Angliederung Hertens zu sanieren hoffte, wurde ebenfalls enttäuscht. Es erhielt im Landkreis Recklinghausen nur einige Grenzberichtigungen gegenüber den Landgemeinden Henrichenburg und Horneburg (§ 40 GS S. 97).
Für Gelsenkirchen-Buer, Bochum, Wattenscheid, Wanne-Eickel, Herne, Castrop-Rauxel und Dortmund wurde die Bildung einer zwischengemeindlichen Arbeitsgemeinschaft in der vom Innenmini-ster vorgeschlagenen Form verfügt (§ 61, 1.4 GS S. 100 und § 41 des Einführungsgesetzes). Diese Arbeitsgemeinschaft erwies sich jedoch als völliger Fehlschlag und gelangte zu keiner praktischen Wirksamkeit. Der Widerstand der beteiligten Städte war zu groß, als dass es in diesem locker organi-sierten Gebilde zu fruchtbarer Zusammenarbeit hätte kommen können.
Mit der Verabschiedung des Gesetzes von 1929 fand die kommunale Neugliederung im rheinisch-westfälischen Raum ihren Abschluss. Das Ergebnis ist noch heute sehr umstritten. Die Bestrebungen größerer zur Auflösung gelangter Städte, ihre Selbständigkeit wiederzugewinnen, sind keineswegs erloschen, wie es die Beispiele Buer und Hamborn erhärten. Mit Recht wies die Kritik schon damals auf die großen ländlichen Gebiete hin, die von manchen Großstädten eingemeindet worden waren und ihrer Struktur nach einen Fremdkörper in dem Gemeinwesen darstellen mussten.
Für Herne beseitigte das Gesetz die Gefahr der Aufsaugung durch die Großstadt Bochum. Gleichzeitig erhielt es seine endgültige Grenzziehung. Rings von Städten umgeben, besitzt Herne keine Ausdehnungsmöglichkeit mehr. Seine Aufgabe ist es nun, Aufwärtsentwicklung und zugemessenen Raum in Übereinstimmung zu bringen. [1]
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- Grenzen zu den Gemeinden Börnig und Holthausen 1928 (Karte) (← Links)
- 9. November (← Links)
Anmerkungen
- ↑ Es ist in diesem Zusammenhang als kurzes Intermezzo erwähnenswert, daß der Recklinghäuser Oberbürgermeister im Rechnungsjahre 1927/18 überraschend an das Preuß. Staatsministerium den Antrag gerichtet hatte, die Städte Recklinghausen und Herne miteinander zu vereinigen. Hiermit war er aber nicht nur in Herne, sondern auch in Recklinghausen auf so entschiedene Ablehnung gestoßen, daß er den Antrag einige Tage später zurückzog. Der Gedanke tauchte aber später in einem Vorschlag von gelsenkirchen-Buer wieder auf.
Quellen
- ↑ Meyerhoff/Reiners 1928-1933. S. 9-16