Erinnerungen an „Piepenfritz“
Es gibt Ereignisse im Leben, an die man sich gerne zurückerinnert.
Werde ich nach einer besonderen Begebenheit aus meiner Kindheit und Jugend befragt, kommt mir sofort der 1. April 1961 in den Sinn. Warum ? An diesem Tag standen fünf junge Männer erstmals zusammen mit ihrem damaligen Meister auf dem Förderkorb, der sie auf die 565-Meter-Sohle der Zeche Friedrich der Große 3 und 4 bringen sollte.
Walter Herzig, Klaus Zweiböhmer, Bernd Sens, Horst Schneider und ich hatten am 1. April 1959 unsere Ausbildung auf der Zeche Friedrich der Große 1 und 2 begonnen. Hier befand sich unsere Lehrwerkstatt – ein Raum hinter der großen Zechenschmiede mit dem Eingang zur Dreherei. Hans Nowak war unser zuständiger Geselle. Die handwerkliche Ausbildung erfolgte nach dem Vorbild der weltbekannten Flottmann-Werke. Wir lernten geiwissenhaft den Umgang mit den wichtigsten Handwerkzeugen wie Feile, Säge, Meissel und Schieblehre. Zunächst mussten wir bestimmte Werkstücke herstellen. Millimeter- und passgenau. Dafür gab es dann Noten. Meister Walter Porsfeld und Altgeselle Hans Nowak begutachteten sehr genau unsere Arbeit an der Werkbank. Die gesamte Werkstatt unterstand damals Meister Kischkel, der sich aber in der Schlosserwerkstatt nie sehen ließ, ihm unterstand wohl mehr die übertägige Ausbildung der Bergleute, die ebenfalls einen Teil ihrer Lehre in der großen und lauten Zechenschmiede absolvierten.
Jeden Dienstagvormittag gab es für die Schlosserlehrlinge einen Werksunterricht. Der fand in einem Schulungsraum über der damaligen Jugendkaue des Pütts, der am Kopfende des werkseigenen Sportplatzes lag, statt. Auch die Auszubildenden der anderen Lehrjahre nahmen daran teil, sogar Sportunterricht mit Herr Haas gab an diesen vierstündigen Schultagen. Auf „Piepenfritz“ verfolgte man jenen Jahren wohl ein neues Ausbildungskonzept, denn erst ab 1958 setzte man verstärkt auf eigene Kräfte im technischen Bereich. So gab es in diesem Lehrjahr schon drei Auszubildende (Klaus Rybarzyk, Egon Jeske, Herbert Sontopski), ab 1960 stieg die Zahl der Schlosserlehrlinge für den Untertagebetrieb aber deutlich von Jahr zu Jahr an.
Als wir Fünf am 1. April 1959 erstmals das Zechentor an der Werderstraße passierten, gab es noch die Sechs-Tage-Woche. Auch wir Auszubildenden mussten daher noch samstags für ein paar Stunden zum Pütt. Alles änderte sich am 1. Mai 1959, denn da hieß es auf einmal: „Samstags gehört der Papi uns“. Klasse.
Nach einem Jahr Lehrwerkstatt ging es ab dem 1. April 1960 in die Grubenschlosserwerkstatt auf 3/4. Hier wurden die Auszubildenden in den alltäglichen Arbeitsprozess eingegliedert. Wir lernten nun unter der Oberaufsicht des strengen Willi Obermeier die verschiedenen Bereiche: Motor-, Getriebe-, Pumpen- und Blasmaschinen-Instandsetzung, Anfertigungen von Ladestellen und weitere Spezialgebiete kennen. Auch den Umgang mit den verschiedenen Schweißgeräten (Gas, Elektro) gehörte dazu. Wer in der Schweißabteilung tätig war, musste daher auch schon Mittagschichten verfahren. Einer meiner damaligen Ausbilder, den späteren Grubenwehrgerätewart von Mont-Cenis, Adolf Freese, besuche ich auch heute noch gerne. Wir plaudern oft über alte FdG-Zeiten. Auch den ehemaligen FdG-Schweißer Werner Surma, treffe ich ab und zu bei bergmännischen Veranstaltungen in Herne.
Nach jeweils drei Monaten, die ebenfalls vom zuständigen Gesellen bewertet wurden, wechselten wir die Abteilungen. Ich begann bei Harry Seefeld und Manfred Dickta, den Motoren- und Getriebspezialisten, und überzeugte mit der Traumnote eins.
Nach einem Jahr Grubenschlosserwerkstatt stand nun endlich die erste Grubenfahrt an. Genau um 6 Uhr holte uns Meister Walter Porsfeld, mit dem fast alle Auszubildenen auch nach ihrer FdG-Lehre, ein sehr freundschaftliches Verhältnis pflegten, auf dem Gang zwischen Kaue und Lohnhalle ab. Wir trugen Helme, in den Jacken unser noch sauberen, blauen Anzüge steckten Dubbelpakete und die obligatorische Kaffeepullen aus Aluminium. Zunächst ging es in die Filterbude, wo wir eine Einführung in Sachen CO-Selbstretter erhielten, danach in die Lampenbude, hier konnten wir unsere Kopflampen aus der Ladestadion ziehen und ab gings es zum Schacht 4, wo wir den letzten Korb der morgendlichen Seilfahrt bestiegen.
Der Anschläger gab den Korb mit dem üblichen Signal frei, wir fuhren erstmals in die schwarze Tiefe. Nach ein paar Minuten hatten wir Sechs jedoch unser Ziel, die 5. Sohle erreicht. Meister Porsfeld stellte uns den Anschlägern vor und erklärte uns den Schachtbereich. Bis zum Lokschuppen, der Werkstatt der Grubenschlosser, waren es nur ein „Fahrweg“ (ein Bergmann geht nicht, er fährt) von wengen Minuten.
Der Lokschuppen, von nun an unserer Arbeitsplatz, entpuppte sich als ein etwa 80 Meter langer, großzügig ausgebauter Querschlag mit geweißtem Mauerwerk. Man hatte nicht das Gefühl, fast 600 Meter unter der Erde zu sein.
Die Werkstatt, so stellte sich heraus, war wohl zunächst Heimat der Lokschlosser, die hier die luftgetriebenen Loks warteten und bei Bedarf auch instandsetzten. Daher war Heinz Salomon, der Kolonnenchef der damaligen Lokschlosser, der erste Handwerker, der uns dort in der Tiefe mit einem „Glück Auf“ begrüßte.
In der fast vollständig eingerichteten Werkstatt standen verschiedene Maschinen wie Bohrmaschinen, Hobelbank, Fräse und Drehbank. Sogar einen Deckenkran gab es. Was fehlte, war verständlicher Weise eine Schweißerbude. Uns wurden vom Meister unsere Arbeitsplätze — Schraubstöcke an einer langen Werkbankreihe — zugewiesen. Im Laufe des Tages lernten wir auch die verschiedenen Grubenschlosser kennen, die von hier aus, wenn sie nicht direkt einem Revier zugeteilt waren, zu Einsätzen im großen Grubengebiet ausrückten. Da waren die Drittelführer Alfons Steble, Horst Bednarz, Hannes Ganteför und ihre Mannschaften. Von diesem Tag an wurden wir ebenfalls in die verschiedenen Teams integriert und lernten so das riesige FdG-Grubengebäude kennen.
Manchmal waren wir fünf Azubis auch gemeinsam irgendwo eingesetzt. Einmal, so erinnere ich mich, bauten wir ein Stahlgliederband der Firma Prünte im Gesteinsberg von Flöz E auf der 4. Sohle ein. Später war ich hier noch einige Tage mit Josef Kulla, einem netten Gesellen, im Einsatz, den ich 2015 während meiner FdG-Ausstellung im Pfarrheim St. Josef, nach über 50 Jahren wiedertraf. Er konnte sich, wen wundert es, an diesen gemeinsamen Einsatz, jedoch nicht mehr erinnern.
Im Frühjahr 1962 begannen wir im Lokschuppen mit den Arbeiten an unseren Gesellenstücken. Die Prüfung fand dann im März 1962 auf der Zeche Lothringen in Bochum-Gerthe statt. Ich bestand mit Auszeichnungen und erhielt als Dank die neuste Ausgabe des Dudens mit Widmung von Bergrat a.D. Helmuth Heintzmann.
Nach der Prüfung wurden wir „Frischlinge“ in den Maschinenbetrieb integriert. Zunächst aber nur auf Morgen- und Mittagschicht, Nachtschichten waren erst ab 18 erlaubt. So ist mir meine erste Nachtschicht 1962 ebenfalls noch in guter Erinnerung, denn an diesem Tag verunglückte unser Kollege Walter Herzig bei einem Verkehrsunfall in Höhe des Casinos 3/4. Wir, Horst Schneider, Bernd Sens, Klaus Zweiböhmer und ich, standen in Bergmannskitteln und brennenden Grubenlampen damals sehr traurig an seinem offenen Grab.
Ich blieb bis 1964 „Piepenfritz“ treu, wechselte, nachdem ich mehrere Semester einer „Aufbauschule“ (ohne Abschluss) besucht hatte, zur Zeche Lothringen, es folgten weitere Schlossereinsätze im Streckenvortriebsbereichen auf Carl Funke (Essen) und Möllerschächte (Gladbeck). 1966/67 fuhr ich noch einmal für einige Monate auf Piepenfritz am neuen Schacht 6 ein, um mich dann ganz vom Bergbau zurückzuziehen.
Manchmal treffe ich auch heute noch Kollegen aus meiner Piepenfritz-Zeit. So traf ich nach über 40 Jahren zufällig Volker Vogelmann und Karl Wille wieder, die ab 1960 einst gemeinsam ihre Schlosserlehre auf FdG begonnen hatte. Andere, wie mein langjähriger Freund Horst Schneider, mit dem ich sogar die Schule an der Schulstraße besucht hatte, und Siegfried Tempel, ebenfalls einem Grubenschlosserlehrling des Jahres 1962, sind inzwischen leider gestorben. Sie alle halfen mir in den vergangenen Jahren sehr oft dabei, Geschichten zu suchen, die ich für meine Ruhrgebietsbücher, die ich seit 2007 schreibe, gerne verwende.
Im Laufe meines weiteren journalistischen Arbeitslebens wurde ich oft mit dem Bergbau konfrontiert. Unternahm eine Grubenfahrt auf Prosper (Bottrop), berichtete dort auch 1987 vom Besuch des Papstes Johannes Paul II. und war 1976 dabei, als der erste Spatenstich für den Schacht 10 von Prosper-Haniel erfolgte. Die Schacht Prosper 9 und 10 gehörten bis 2006 zu meinen Arbeitsbereich und bin ihnen auch heute noch sehr verbunden. Meine letzte Grubenfahrt unternahm ich jedoch 2009 auf dem Bergwerk West. Um daran teilnehmen zu können, hatte ich ein wenig geschummelt, denn Altershöchstgrenze liegt für solche Fahrten bei 60 Jahren. Auf wundersame Weise war ich an diesem denkwürdigen Tag auf der Fahrt zwischen Herne und Kamp-Lintfort für ein paar Stunden fünf Jahre jünger geworden. [3]