Der Emscherreiter (Hausemann 1935)

Aus Hist. Verein Herne / Wanne-Eickel

Am 29. Dezember 1934 wurde im Herner Anzeiger ein Text von Friedrich Hausemann über die Pest im Emscherbruch veröffentlicht. [1]

Der Emscherreiter

Eine Skizze von Friedrich Hausemann.

Am Laurentiustage des Jahres 1636 zog der Herr der Schadeburg, Reichsfreiherr von Palland, mit seinen Pferdestrückern ins Bruch. Hatten doch die entmenschten Söldnerscharen den herrlichen Stöt (Einzäunung für Pferde) buchstäblich dem Erdboden gleichgemacht und mit den gezähmten Gäulen nach kurzem, grausamem Kampfe das Weite gesucht. Franz, der getreue Knecht, war dabei an den Boden geschlagen worden.

Mit verbissenem Grimm stand die vierschrötige, eckige Gestalt des Grafen da. Alles bäumte sich in ihm gegen diese Mordbrenner auf. Doch was nützte es? Gegen diese völlig verwilderten Kriegsknechte war nicht anzukommen. Hatte ihm nicht unlängst noch ein Courier von der Vernichtung der Stadt Magdeburg erzählt? Es waren Bilder des Grausens und der Schändung. Nur ungern zogen die sonst so getreuen Gehilfen in dieser unheimlichen Nacht hinaus. Aber die graue Not zwang sie. Nicht einmal die notwendigsten Gäule hatte man noch. Viele gestohlen, etliche verkauft, um die Steuern zahlen zu können. Zudem musste man in solch bewegten Zeiten eher ein Dutzend Pferde mehr halten - wenn mal in einer stürmischen Brandnacht das ganze Dorf fliehen musste. -

So zog alles düster, schweigsam ins schwarze Bruch. Aus grauen Nebelwolken, die über den Sümpfen standen, tauchten die Schatten der Kopfweiden auf wie stumme Begleiter auf schauriger Fahrt. Mit sausendem Flügelschlag strich der Birkhahn durch das Ödland. Entsetzlich, das helle Schreien der Kiebitze zu hören. Wie Künder drohenden Unheils schwebten ihre schwarzen, spukhaften Schatten dahin im Irrlicht der Sümpfe. Dann wurde es still. Grabesruh breitete sich rings um die kleine Schar aus, die den Bruchweg dahinzog. So war man bei den in Urgroßvaters Tagen gebauten Anständen angekommen. Allzu gefährlich am Rande der Sümpfe stehend, doch seit altersher als beste Fangstelle für „Emscherbrücher" (Wildpferde) weit und breit bekannt. Schnell kletterte jeder auf die hölzernen Gerüste, um beim mitternächtlichen Wechsel diesen und jenen Unrast zu fassen. Wie vorauszusehen, lugte man vergeblich. In einer solchen Nacht wagten sich die Wildpferde nicht aus ihren Verstecken. Eine unheimliche Ruhe breitete sich über das Bruch aus. „Es liegt was in der Luft,“ unterbrach Pferdestrückers Karl das eisige Schweigen. Keiner wunderte sich, als der herrische Edling trotz des Misserfolges das Zeichen zum Aufbruch gab. Eine solche Nacht trotzte allen Leidenschaften. Zurück gings dem Dorfe zu.

Aber wie erschrak man, als die dicken Nebelwände wie Steinschichten undurchdringlich, unbeschreiblich vor ihnen standen und Irrlichter wie neckische, verderbliche Kobolde vor den Augen dahintanzten!

Nach wenigen Schritten war der Herr selbst vom Pfad abgekommen. Trotz seiner kräftigen Stimme fand man ihn erst nach langem Suchen. Sie erreichten nach beschwerlichem Marsch den Rand des Bruches.

Da - - jäh erschrocken hielt alles den Atem an.

Angst und Schrecken stand in den entgeisterten Gesichtern zu lesen; Karl war nicht mitgekommen.

Rufe aus rauhen Kehlen gellten weit ins Bruch. Alles vergeblich. Als schrie man gegen eine Festungsmauer, so abgeschnitten verklang es im unheimlichen Nichts.

Eine seltsame Naturerscheinung lenkte noch einmal die Blicke unserer verängstigten Schar rückwärts. Ein kometähnlicher, weißgelblicher Nebelstreif, einen fürchterlichen schwefligen und stinkenden Geruch verbreitend, sauste daher, zickzackförmig einem Ziele zu, als verfolge er, von unsichtbarer Geisterhand geführt, einen Menschen. Da - - ein deutliches Aufstoßen und ein entsetzlicher Schrei - ein grässliches Stöhnen - dann herrschte Grabesstille. –

„Karl ist tot!“ –

„Wißt ihr, was das bedeutet?“ sagte einige Abende später die Muhme am Herdfeuer, „die Pest! und Karl ist ihr erstes grausiges Opfer“, und obwohl ihr die Sprache bei dem drückenden Nebel bald versagte, drängte es sie, weiter zu sprechen. „Der Pfarrer selig hat einmal aus einem großen schweinsledernen Buche darüber der Gemeinde vorgelesen: ein weißer Nebelstreif kommt in einer mondfinsteren Nacht als der Bote des Saturn, und schickt die todbringenden Dünste auf die Erde, dann wenn der Mond eine Finsternis unter dem Zeichen des Wassermanns, der Waage und des Skorpions erleidet.“

Karl galt im Dorfe als erster Pestfall. Er war nicht wiedergekommen, so sehr man es hoffte. Das gespenstige Bruch hatte ihn behalten und zählte ihn zu den Seinigen. Nur die alte Greite fügte traurig inzu: „Er kommt nicht zurück, weil er uns nicht verderben will!" Beim Scheine des Herdfeuers wusste jeder etwas zu erzählen. Aus dem Almanach verlas der Schulmeister die Weissagung des prophetischen Arztes Marsilius Firinius, der aus der Stellung von Saturn und Mars schon vor zwei Jahren eine Pest vorausgesagt hatte, dass selbst „Katze und Hund hinfalle".

Monde zogen seitdem ins Land. Doch dann erlebte das Emscherbruch die Schreckensfahrt der apokalyptischen Reiter.

Zuerst rüttelte ein wütender Sturm das Dorf wach, knickte die stolzen Buchen und Pappeln wie Streichhölzer. Dächer wurden abgedeckt, Brände entfacht. Dann sauste vom Bruch her unter Sturmgetöse das wilde Heer heran, angeführt von einem spindeldürren Riesen mit weithin flatterndem Nebelmantel. Ein erdfahles Gesicht, mit blassgrauen, ausdruckslosen Augen, die unter der schmalen Stirn des Knochenmannes hervorglotzten. Dürre, lange Arme mit entsetzlich langen Fingern wie Spinnenfüße anzusehen. Mit heiserem, schadenfrohem Kichern zog er durch das Dorf dahin, packte willkürlich Kinder, alte Leute, eine entsetzliche Luft um sich verbreitend. Auf die Nacht des Grauens folgte der schwärzeste Tag in den Dorfannalen.

Die Pest war da! Einige Häuser hatten schon, wie es ihre Pflicht war, das Pestzeichen - ein schwarzes Tuch - angebracht. Arzt, Priester, Pestknechte in ihrer fantastischen Vermummung eilten hin und her und walteten ihres Amtes.

Aus einem starkverstaubten Buche hatte der Schulze die behördlichen Bekanntmachungen bei Seuchengefahr abgeschrieben und den Gemeindeboten damit durchs Dorf geschickt. Und er verkündete mit Amtsstimme:

„Häuser mit Pestkranken sind am Tage an der schwarzen Schleife und des Nachts an der roten Lampe zu erkennen.“
Jeder Pestkranke muss nach Möglichkeit auf das „Feld hinausgetragen werden.“
„Wer nachweisbar die Pest ins Dorf bringt, dessen Hab und Gut verfällt dem Staate.“
„Aerzte, Träger und Krankenwärter tragen als Kennzeichen ein weißes Kreuz.“ Pestpriester dürfen keine Kirche betreten.“
Nur Mitte der Straße gehen und mit besonderer Pfeife Ankommenden ein Zeichen geben"
Wer einen Pestkranken gepflegt hat, muß 10 Tage fortgeschickt werden.

Eine Weltuntergangsstimmung machte sich breit, denn auch alle Nachbarorte hatte der Emscherreiter heimgesucht.

„Vor Pest, Hunger und Krieg, bewahre uns. o Gott“ flehten die Gläubigen. Doch der „Schwarze Tod“ wütete ohne Ansehen der Person und des Standes. Recklinghausen, Börnig, Sodingen, Holthausen, Castrop, Frohlinde, Kirchlinde und Merklinde erlebten den ganzen Jammer. Merklinde verlor auch den letzten Einwohner. Minderbrüder und Dominikaner, die den Sterbenden den letzten Trost brachten wurden so rasch von dem schwarzen Tod ergriffen, dass einige sogar im Sterbezimmer zurückblieben.

„Was Jammer ist nun da
Man sieht auf allen Gassen
die Häuser ganz verlassen.
Der Vater lässt sein Kind,
Das Kind den Vater stehn,
Und darf nicht so geschwind
Ein Mensch zum andern gehn.“


Im Bruch flehte man zum hl. Rochus, baute ihm in Recklinghausen eine Kirche - errichtete überall sein Standbild.

Stürmisch hatten die Gläubigen in ihrer Verwirrung schon jetzt die Aussetzung seiner Gebeine verlangt und flehten auf den Knien liegend Tag und Nacht um Erbarmen.

Gewaltige und fast unmögliche Stiftungen wurden eidlich und urkundlich bei Gericht niedergelegt. Die Oberkastroper St. Rochus=Stiftung schließt: „In Urkund der Wahrheit haben die ehrwürdigen wohlgelährten Ehrennachtbare und fürnehme Martinius Borchardus, Pastor zu Kastrop, und Johann Kallenbergh, Erbgesessene zu Oberkastrop, Hovesrichter und Mitinteressant; im Namen und von wegen unser sämtlicher Eingesessenen gegenwörtiger Fundation pp. mit ihrer eigenhändigen Unterschrift bekräftigt, auch ist zu unserer Beglaubigung des kaiserlich freien Hoves zu Castrop Erben der Freiheit Kastrop, Eigensiegel hierunter an diesem Briefe äußerlich gehangen. So geschehen im Jahre nach der Geburt Jesu Christi 1637 den 16. August aufs Fest des Hl. Rochus Beichtigers.“ Fromme Bittgänge führten im Monat August nach Maria Himmelfahrt zu den „Linden".

Die „Geißel" wich, nachdem sie im Emscherbruch die Hälfte der Menschheit vernichtet hatte.

Furchtbarer denn je wurde für die Bewohner das Geheimnis des Bruches, und gar mancher hat wegen der Bruchnebel für immer die Heimat aufgegeben.

Doch der größte Teil blieb und sagte dem Emscherreiter tödlichen Kampf an. Zog tiefe Gräben und Kanäle und lenkte das Wasser in vorgeschriebene Bahnen. Der Staat unterstützte die Anlieger, zwang sie aber auch ähnlich wie die Deichbauern, die Gräben peinlichst sauber zu halten. Vernichtete so die Sümpfe mit ihren „bösen Dünsten“ und minderte die Wucht der Nebel. Fruchtbare Äcker mit goldenen Getreidefeldern waren das Ergebnis jahrhundertelanger Kulturarbeit, und seitdem hat kein Mensch den Emscherreiter mehr gesehen.

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Quellen