Beleidigung Anno 1902 II

Aus Hist. Verein Herne / Wanne-Eickel

Der Generalanzeiger für Dortmund[1] veröffentlichte am 3. Oktober 1902 auf ihrem Titelblatt einen Artikel über den Abschluss des Beleidigungsprozesses Bösser vers. schaefer & Co. Zustände Anno Domini:

Der Stadtverordnete Bösser aus Herne vor Gericht.

Dortmund, 2. Oktober. 1902
II.
Den Vorsitz in der heutigen Verhandlung führte Herr Landgerichtsdirektor Seyffardt, die Staatsanwaltschaft vertrat Herr Assessor Engelhardt, die Verteidigung führte Herr Rechtsanwalt Dr. jur. Niemeyer=Essen.
Unter den aufgerufenen Zeugen befinden sich auch die Herren Kreisarzt Dr. Racine aus Essen und der Irrenarzt Dr. Brie aus Grafenberg bei Düsseldorf als Sachverständige.
Nach Verlesung des Anklagebeschlusses wird zunächst auf den Inhalt der Brief eingegangen, die zur Verlesung gelangen. Wir haben die Hauptstellen der inkriminierten Schreiben schon gestern[2] kurz skizziert. Der Inhalt der Briefe eignet sich, wie bekannt sein dürfte, nur zum Teil zur Wiedergabe. Erwähnt sei noch, dass Bösser am 1. September v. J. an Herrn Ersten Bürgermeister schrieb:
„Ich habe Ihre drei Stück Briefe erhalten. Daraus geht nur hervor, dass Sie mich bei der Staatsanwaltschaft verklagt haben. Hoffentlich wird dadurch untersucht, dass Sie einen falschen Eid geleistet haben und Sie auf die Anklagebank kommen!“
An den Herrn Landrat Gerstein in Bochum schrieb Bösser am 13. Oktober, Herr Bürgermeister Schaefer verkehre nur in Lokalen, wo Ulk und Humor gemacht werden und schlechte Gesellschaft verkehre. Er — Bösser — glaube, der Bürgermeister sei nicht geistig normal, sondern habe ein krankes Hirn. Die Zustände in Herne seien ganz unglaublich. „Es würde mich freuen, wenn der Herr Landrat eine halbe Stunde Zeit hätte, um mich Ihnen persönlich auszusprechen. Ich habe immer Zeit!“—
Vorsitzender: Was haben Sie nun auf alle diese Schreiben zu erwidern?
Angeklagter will zu seiner Rechtfertigung eine längere Erklärung verlesen, was aber nicht für zulässig erklärt wird.
Vors.: Der Gerichtshof wird sich zuerst schlüssig darüber zu machen haben, ob wir Ihnen die Verlesung des Schreibens gestatten können!
Der Gerichtshof kam zu dem Beschlusse, dass nach einer Reichsgerichtsentscheidung die Verlesung des Schriftstückes nicht für zulässig erachtet werden könne. Vielleicht erledige sich die Sache so, dass der Angeschuldigte dem Gerichtshofe das Schriftstück überreicht, damit dieser eventuell einige Stellen daraus zur Verlesung bringt.— Angeklagter und Verteidiger erklären sich damit einverstanden.
Vors.: Was wollen Sie denn nun erklären?
Angekl. Bösser führt aus, er sei auf das Schwerste gekränkt worden, deshalb habe er die Briefe geschrieben.
Vors.: Das war nach Ihrer Freisprechung in Essen?
Angekl.: Jawohl, damals hat man in geheimer Sitzung der Stadtverordneten über mich zu Gericht gesessen. Der Vorsitzende hatte den Vorschlag gemacht, mich aus dem Stadtverordneten Kollegium auszustoßen. Dem widersprach aber der Rechtsanwalt Hölscher. Alsdann wurde mit 12 gegen 8 Stimmen beschlossen, alle meine Anträge mit Schweigen zu übergehen und mich überhaupt nicht mehr zu beachten.
Vors.: Das war am 25. Juli vorigen Jahres!
Angekl.: Ja, kurz nachher, als mich die Essener Strafkammer freigesprochen hatte.
Vors.: In dem einen Briefe machen Sie dem Herrn Bürgermeister den Vorwurf des Falscheides. Was veranlasste Sie zu einer solchen Beschuldigung?
Angekl: Weil man mich nicht in Ruhe ließ und man sich erlaubte, mich als Bürger zweiter Klasse zu behandeln.
Vors.: Dann braucht man boch nicht gleich zu den schwersten Vorwürfen zu greifen, die es gibt. Der Vorwurf des Meineides ist der schwerste, der einem Menschen gemacht werden kann. Das wussten Sie auch!
Angekl.: Wenn man gar nicht zur Ruhe kommt und immer belästigt wird, greift man schon leicht zu harten Ausdrücken.
Vors.: Aber dann gibt´s doch noch andere Wege, mein Herr. Solche Ausdrücke braucht man doch selbst in der größten Erregung nicht! Hatten Sie denn Gründe für die Annahme des Falscheides?
Angekl.: Ja, der Bürgermeister war in einem früheren Prozesse gegen mich befragt worden, ob er tatsächlich in dem von mir angegebenen Lokale verkehre. Darauf sagte er, nur dann, wenn er hineingerufen werde. Das stimmt nicht.
Vors.: Es haben auf Ihre Anzeige hin Erhebungen stattgefunden, deren Resultat war, dass der Herr Erste Staatsanwalt zu Bochum sowohl, wie auch der Herr Oberstaatsanwalt in Hamm die Einleitung des Strafverfahrens gegen den Herrn Bürgermeister ablehnten. Trotzdem hielten Sie die Beschuldigung aufrecht. Warum nur?
Angekl.: Ich bin der Meinung, dass die Sache nicht genügend untersucht worden ist. Weil ich in Essen freigesprochen wurde, habe ich die Sache ruhen lassen. Wenn man mich jetzt nicht in Ruhe lässt, werde ich die Sache wieder aufnehmen.
Vors.: Was veranlasste Sie denn, an den Landrat in Bochum zu schreiben?
Angekl.: Weil ich auf alle meine Beschwerden, die ich im Auftrage der Bürgerschaft an den Magistrat richtete, keine Antwort erhielt.
Vors.: Jedenfalls war es aber ein starkes Stück, dem Herrn Bürgermeister Geistesgestörtheit vorzuwerfen. Das musste doch auch Ihnen bekannt sein, dass die vorgesetzte Behörde keinen Mann im Amte lässt, welcher an Geistesgestörtheit leidet und somit Ihre Anschuldigung eine ungerechtfertigte war.
Angekl.: Ich konnte mir nach all den Vorgängen nichts anderes denken.

Der Vorsitzende geht dann auf die Vorgeschichte des heutigen Prozesses ein und berührt auch den Urpunkt des Zwistes zwischen Bösser und Herrn Bürgermeister Schaefer. Diesen bildete nichts anders, als der Umstand, dass Bösser der Ansicht war, man habe zu viel Kanalgebühren von ihm erhoben. Er beschritt den Beschwerdeweg im Verwaltungsstreitverfahren, wurde aber in allen Instanzen abgewiesen. Daran schlossen sich nun die Briefschreibereien, welche Bösser auf die Anklagebank brachten. In einem Urteile des Schöffengerichtes hatte der damalige Vorsitzende, Herr Amtsrichter Sarazinn, das Verhalten Bössers als „arglistig und chikanös“ bezeichnet. Dadurch fühlte sich der Angeklagte beleidigt, beschwerte sich und bemerkte in dem Schriftstück an das Oberlandesgericht, „eine Krähe hacke der anderen kein Auge aus“; er bitte, dem Herrn Amtsrichter, der später auch noch 40 Mark Zeugengebühr bekommen hätte, eine entsprechende Zurechtweisung zu erteilen. In demselben Schreiben wurden auch die Mitglieder der Berufungsstrafkammer in Bochum angegriffen. Die Folgen waren die verschiedenen Beleidigungsprozesse, die schließlich zur Freisprechung Bössers führten, weil Herr Kreisarzt Dr. Racine das Gutachten dahin abgab, dass der Angeschuldigte von dem sogenannten Querulantenwahn befallen und er somit nicht für geistig intakt zu erachten sei. Bekanntlich ging dem freisprechenden Urteil eine vierwöchentliche Internierung des Angeklagten in der Irrenanstalt zu Grafenberg vorauf. Dort hatte man den krankhaften Geisteszustand nicht für erwiesen angenommen. In der Hauptverhandlung hielt Herr Dr. Racien aber sein Gutachten vollständig aufrecht.
Der Vorsitzende kam im weiteren Verlaufe der heutigen Verhandlung auch auf ein Schreiben Bössers an die Staatsanwaltschaft in Bochum zu sprechen. Darin bezichtigt der Angeklagte Herrn Kreisarzt Dr. Racine des vierfachen Meineides.
Vors.: Nun sagen Sie mal, wie kommen Sie wieder zu dieser Beschuldigung? Wie konnten Sie nur dem Herrn Sachverständigen vorwerfen, er habe sich des Meineides schuldig gemacht?
Angekl.: Meine Gesundheit ist mir lieber. Man hat mich doch auf die Aussagen des Herrn Dr. Racine boykottiert.
Vors.: Das hat doch mit der Sache nichts zu tun. Ihr Verteidiger wünscht zu wissen, was Sie veranlasste, gegen den Herrn Sachverständigen den Vorwurf des Falscheides zu erheben.
Angekl.: Ja, er ha tdoch in jeder Verhandlung ausgesagt, ich sei geisteskrank. Das bin ich aber nicht. Ich bin gesund.
Vors.: Das konnten Sie annehmen, aber das bewies doch nicht, dass Herr Dr. Racine nicht nach bestem Wissen und Gewissen sein Gutachten abgegeben.
Angekl.: Ja, ich wurde doch so arg angefeindet.
Der Verteidiger, Rechtsanwalt Dr. Niemeyer, legt mit Erlaubnis des Angeklagten noch einige Briefe vor, welche Bösser nach Aufhebung des Bochumer Urteils an ihn gerichtet hat. Darin heißt es:
Es gibt noch deutsche Richter. Gott sei Dank, das Reichsgericht hat das Urteil aufgehoben. Es waren 17 Sachen angesetzt, aber nur sieben wurden verhandelt. Meine Sache hatte Herr Reichsgerichtsrat Dinkloh in Händen. Da wurde man noch wie ein Mensch behandelt. Geld und Gut hat man mir schon genommen und jetzt will man auch meine Ehre nehmen. Ich bitte Ew. Hochwohlgeboren, darauf zu dringen, dass ich gesund bin. Alles, was ich jetzt über den Magistrat höre, ob wahr oder nicht wahr, werde ich dem Oberpräsidenten schreiben, so lange der Boykott über mich nicht aufgehoben ist. Ich lasse mich nicht unter Ausnahmegesetze stellen. Ich lasse mich auch nicht unschuldig verurteilen und werde jetzt die Entscheidung von Dortmund abwarten. Wenn ich dort verurteilt werde, gebe ich dagegen auch wieder ein!

Von Interesse ist auch die Eingabe an das Reichsgericht. Er ergeht sich darin in den merkwürdigsten Redewendungen und setzt sein ganzes Vertrauen auf die Entscheidung in Leipzig. Alle anderen Gerichtshöfe sind für ihn nicht maßgebend. Er schließt mit den Worten: Ich führe ein christlich=patriotisches Dasein und habe meinem Kaiser die Treue geschworen zu Wasser und zu Lande. Man hat mich in Bochum zu neun Monaten Gefängnis verurteilt und sofort verhaftet. Vier Tage hat man mich ins Gefängnis gesperrt und gegen 5000 Mark Kaution bin ich wieder losgelassen. Ich überlasse nun das Urteil dem hohen Reichsgericht!
Eine weitere Beschwerde richtete Bösser an die Oberstaatsanwaltschaft, in welcher er ausführt, sein ganzes Unglück verdanke er Herrn Staatsanwalt Wagner in Bochum, der ihn auf Schritt und Tritt verfolge und ihn vernichten wolle.
Es wurde sodann in die Beweisaufnahme eingetreten und zunächst
Herr Erster Bürgermeister Schaefer vernommen. Er führte aus: Wenn es der hohe Gerichtshof nicht für erforderlich hält, auf die Vorgeschichte des Prozesses einzugehen, so möchte ich doch folgendes erklären: Kurz nach dem Bochumer Termin kam Herr Bösser zu mir und bat mich, ich möge alles vergessen und ihm verzeihen. Er werde so etwas nicht wieder tun. Ich gab ihm die Verzeihung und sagte ihm: Wenn Sie Ihr Unrecht einsehen, dann verspreche ich Ihnen, ein Gnadengesuch zu befürworten. Einige Tage später fand in Bochum Termin in einer anderen Beleidigungsklage gegen Bösser statt und in welcher ich ebenfalls Kläger war. Bösser erklärte vor Eintritt in die Verhandlung, er nehme alle Verleumdungen zurück und verspreche mir, mich fortan in Ruhe zu lassen. Daraufhin nahm ich den Strafantrag zurück. Nach einigen Wochen kam Bösser wieder zu mir und teilte mir in ziemlich herausforderndem Tone mit, dass das Bochumer Urteil in Leipzig aufgehoben sei. Er stellte an mich nun das Ansinnen, mit ihm nach Dortmund zu fahren und beim Ersten Staatsanwalt den Strafantrag zurückzuziehen. Ich sagte ihm, dass das nach der Prozessordnung nicht möglich sei. Daran wollte er jedoch nicht glauben, und er tat so, als ob es doch von mir abhänge, ob das Urteil aufrechterhalten werde oder nicht. Ich suchte ihn eines Besseren zu belehren und erklärte ihm: Wenn Sie in Dortmund alle Beleidigungen wieder aufrechterhalten, dann ist das Tischtuch zwischen uns zerschnitten. Ziemlich aufgeregt verließ er mich hierauf. Kurz danach reichte er gegen mich eine neue Denunziation beim Oberpräsidenten ein, die sich als ein Rachewerk herausstellte, weil ich den Strafantrag nicht zurückgenommen. Er teilte mir dies auch in einem Briefe mit.
Der Herr Zeuge überreichte den Brief zu den Akten. In demselben befand sich am Schluss der Passus: Solange es noch einen deutschen Kaiser und ein Reichsgericht gibt, kriegt mich kein Mensch unter!
Vors.: Herr Bürgermeister, Sie kennen den Angeklagten schon viele Jahre, was ist er für ein Mann?
Herr Bürgermeister Schaefer: Ich halte Bösser für einen geistig beschränkten Menschen, der sehr rechthaberisch ist, eine gehörige Dosis Bosheit besitzt und den brennenden Ehrgeiz hat, in der Öffentlichkeit eine Rolle zu spielen!
Auf weitere Beweiserhebung wurde darauf allseitig verzichtet.
Herr Kreisarzt Dr. Racine wiederholte sein früheres Gutachten, dass der Angeklagte sich in einem krankhaften Zustande seiner geistigen Kräfte befinde, der sich mit kurzen Worten als sogenannter Querulantenwahn kennzeichne. Er lebe in dem Wahne, ihm würde überall Unrecht getan und er selbst tue nur Recht. Diese Auffassung habe ich nach dem Studium der ersten Akten gewonnen und sie ist heute in mir wesentlich verstärkt worden. Bössers Schwachsinn, der mit in Betracht zu ziehen sei, habe seit der letzten Verhandlung auffallende Fortschritte genommen. Der Brief, den der Angeschuldigte an ihn geschrieben und in welchem dieser ihn des vierfachen Falscheides bezichtigt, beweise ihm (dem Gutachter), dass seine Ansicht über den Geisteszustand des Angeklagten die richtige gewesen sei. Er komme zu dem Resümee, dass Bösser die Briefe in einem Zustande geschrieben, bei welchem seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war. Der Angeklagte müsse daher auf Grund des Paragraphen 51 des Strafgesetzbuches freigesprochen werden.
Der Oberarzt der Grafenberger Irrenanstalt, Herr Dr. Brie, welcher früher auf einem anderen Standpunkt stand, schließt sich heute dem Gutachten des Herrn Dr. Racine voll und ganz an Herr Staatsanwalt Engelhardt beantragte auf Grund der Gutachten der beiden Sachverständigen die Freisprechung des Angeklagten.
Herr Rechtsanwalt Dr. Niemeyer bemerkte. er könne die Freisprechung auf Grund der ärztlichen Gutachten nicht in Antrag bringen; denn der Angeklagte und auch seine Angehörige ständen einmal auf dem Standpunkte, dass die Ansicht der Ärzte eine irrige und Bösser vollständig gesund sei. Er als Verteidiger könne deshalb nur bitten, den Angeklagten als gesund zu bezeichnen und ihn freizusprechen aus rechtlichen Gründen. Der Angeklagte sei der Überzeugung, dass das, was er behauptet, objektiv wahr und dass ihm Unrecht geschehen sei.
Tatsächlich sei ihm Unrecht geschehen, denn wenn eine Verwaltungsbehörde über einen Mann, der von den Ärzten als nicht geistig gesund erklärt worden, den Boykott verhänge und damit den Grund lege zur Fortentwicklung seines krankhaften Zustandes, so könne dies nicht als gerecht bezeichnet werden.
Der Gerichtshof sprach nach kurzer Beratung den Angeklagten frei und legte die Kosten des Verfahrens der Staatskasse zur Last. Nach Paragraph 31 des Strafgesetzbuches scheide die Strafbarkeit des Angeklagten aus, wenn eine Störung des Geisteszustandes vorläge Nach den Ausführungen der Herren Dr. Racine und Dr. Brie träfen bei dem Angeschuldigten Bösser diese Voraussetzungen zu Der Gerichtshof habe daher, wie geschehen, erkennen müssen.


Ende?

Verwandte Artikel

Quellen