Beleidigung Anno 1902

Aus Hist. Verein Herne / Wanne-Eickel

Der Generalanzeiger für Dortmund[1] veröffentlichte am 4. April 1902 einen Artikel über ein weiteren Beleidigungsprozesses in der Herner Oberschicht an. Zustände Anno domini:

Stadtverordnete Bösser vor Gericht.

Bochum, 3. April. 1902
Vor der hiesigen Strafkammer hatte sich heute der Stadtverordnete Ludwig Bösser aus Herne wegen erneuter Beleidigung des dortigen Herrn Ersten Bürgermeisters Schaefer, des Magistrats und des Stadtbaumeisters Schubert zu verantworten. Es handelte sich gewissermaßen um eine Fortsetzung der anonymen Briefgeschichte, welche im vorigen Jahre wiederholt die Gerichte beschäftigt und schließlich zur Freisprechung des Bösser geführt hat, weil ihn die Essener Strafkammer nicht für geistig intakt, sondern für einen Querulanten hielt: vorher war der Angeschuldigte in der Irrenanstalt Grafenberg auf seinen Geisteszustand beobachtet worden. Nach dem freisprechenden Urteil, welches seiner Form und dem Inhalte nach für Bösser gerade nicht schmeichelhaft klang, nahmen die Stadtverordneten zu dem Fall in einer geheimen Sitzung Stellung und beschlossen, alle Anträge und Anregungen ihres Kollegen Böser weder zur Abstimmung, noch zur Debatte zu bringen.
Diese Maßregelung drückte dem allzeit schreiblustigen Angeklagten aufs Neue die Feder in die Hand und er richtete nacheinander am 2. u. 8. Oktober, sowie am 1. November 1901 an Herrn Bürgermeister Schaefer längere Briefe, deren Inhalt kaum wiedergegeben werden kann. Ähnliche Briefe ließ er am 13. Oktober und 17. November v. J. zu Händen des Herrn Landrats Gerstein gelangen, damit dieser „die unglaublichen Zustände in der Stadt Herne“ aufdecke und beseitige.
In dem ersten an Herrn Schaefer gerichteten Schreiben kritisierte er in den schärfsten Worten die Vorlage des Magistrats bezüglich der Fluchtlinienänderung der Rosenstraße, welcher Spaß der Stadt 70—80 000 Mark koste. Bösser fragt dann: „Wo bleibt da die Gerechtigkeit? Der Magistrat ist doch unser Vormund nicht. Wir sind alle großjährig und ich freue mich, dass ich einen reinen Charakter habe und ich nicht bin, wie die Leute, die an meine Stelle getreten sind. Diese sind als Wilddiebe, Spitzbuben öffentlich bezeichnet, der Eine ist Ehebrecher, der andere hat gegen unseren Kaiser die schwersten Verdächtigungen ausgesprochen. Solche Leute sind bei unserem Bürgermeister die Beliebtesten.“—
Der Vorsitzende, Herr Landgerichtsdirektor Rubert ersuchte den Angeklagten, seine ehrverletzenden Vorwürfe zu beweisen. Der Angeklagte gibt darauf an, dass man ihn auf den Vorschlag des Magistrats nicht wieder zum Protokollführer gewählt habe. Er habe mit seinen Briefen nur seine Ehre gewahrt, das könne ihm kein Mensch verübeln.
Vorsitzender: Gewiß, das tut auch niemand, Sie dürfen aber auch keinen Menschen grundlos beleidigen.
Angeklagter: Ich wolle nicht beleidigen, sondern mich nur meiner Haut wehren.
In dem Briefe vom 8. Oktober schreibt Bösser, an der neuen Schule bei Zeche „Konstantin“ seien als Steine nur Schund verwendet, die 4-5 Mark per Tausend billiger wären, wie von der Schulkommission beschlossen worden; die Schule sehe scheußlich aus, der Verputz bröckele ab usw. „Geht das wieder nach Gunst?“ fragt er zum Schluss.
Vors.: Wie kamen Sie auf das Wort „Gunst?“
Angekl.: „In Herne geht viel nach Gunst!“
In dem dritten Briefe ergeht sich Bösser soweit, Herrn Bürgermeister Schaefer des Falscheides zu bezichtigen. Herr Scharfer hatte ihm mitgeteilt, dass er der Staatsanwaltschaft die schweren Beleidigungen unterbreitet habe. Darauf antwortete Bösser, er möge zusehen, dass die Staatsanwaltschaft ihn nicht wegen Meineides auf die Anklagebank bringe.
Staatsanwaltschaftsrat Dr. Gerbaulet: Der Angeklagte hat einen Strafantrag gegen den Herrn Bürgermeister wegen Meineids gestellt. Das Verfahren ist aber gar nicht eröffnet, Bösser vielmehr abgewiesen worden.
Vors.: Da hört sich ja alles auf. Also trotzdem Sie den ablehnenden Bescheid der Staatsanwaltschaft in Händen hatten, erlaubten Sie sich einen Mann von solcher Stellung, wie Herr Bürgermeister Schaefer, des Falscheides zu bezichtigen? Das ist doch unerhört. Daraus spricht nur grenzenloser Hass und Rache, anders ist das Motiv nicht, zu bezeichnen.
Der Angeklagte behauptete, Herr Schaefer habe in dem früheren Beleidigungsprozess die Frage der Staatsanwaltschaft, ob der Magistrat auch gegen Böser Strafantrag gestellt, mit Ja beantwortet, obschon die Magistratsmitglieder dies entschieden bestritten hätten.
In der ersten Eingabe an Herrn Landrat Gerstein beschwert sich Böser zunächst darüber, dass in der Shamrockstraße ein Haus gebaut werde, welches 3 Meter vorspringe. Er habe dies in der Stadtverordnetensitzung schon gerügt, habe aber keine Antwort bekommen. Deshalb möge der Herr Landrat Remedur schaffen. Der Erste Bürgermeister sei seines Erachtens geistesgestört. „Was der Bürgermeister will, das will er. Er stellt Beamte an, die das 6. Gebot nicht kennen, die unbescholtenen Bürger wegen unrechtmäßiger Kanalgebühren pfänden und er sagt auch unter dem Eid die Wahrheit nicht. Er fühlt sich am wohlsten, in schlechter Gesellschaft und es ist doch bekannt, dass schlechte Gesellschaften gute Sitten verderben. Ich glaube, dass der Erste Bürgermeister kein gesundes Hirn mehr hat!“-
In diesem Tone geht das weiter.

Vors.: Warum haben Sie diese Beleidigungen denn wieder erhoben. Sie scheinen mir doch am wenigsten geeignet, über andere Leute Geistesgestörtheit zu urteilen. Sie sind in Essen nur deshalb freigesprochen worden, weil das Gericht angenommen hat, sie litten an geistigem defekt. Ob das richtig ist, darüber haben wir heute nicht zu, entscheiden, aber bezeichnend ist es doch.
Angekl.: Ich freue mich, dass ich noch heute gesund bin.
Vors.: Das ist ja gut, aber was greifen Sie denn fortgesetzt die Ehre Ihrer Mitmenschen an? Kümmern Sie sich doch nicht um Sachen, die Sie nichts angehen, oder die Ihnen unangenehm werden können. Wenn man Sie im Stadtverordnetenkollegium kränkt, bleiben Sie doch fort!
Angekl.: Ja, die Herren haben mich sehr gekränkt und dagegen wehre ich mich.
Der letzte, an den Herrn Landrat gerichtete Brief ist wohl der beleidigendste. Bösser wirft dem Herrn Ersten Bürgermeister Schaefer direkt vor, er verkehre in einem Hause, welches durch seine Sittenlosigkeit bekannt sei. Er stehe mit dem Wirt sogar auf Duzfuß. Die Unsittlichkeit Hernes nehme erschreckend zu. Er (Böser) gehöre dem Verein an, welche die Sittenlosigkeit zu steuern bestrebt sei. Die Sittlichkeitsverbrechen wären in den letzten Jahren von 7000 auf 14 400 gestiegen. „Ich kämpfe nur für das gute Recht. Gott verlässt keinen Deutschen nicht. Gut wäre es, wenn Sie Herr Landrat, mal eine halbe Stunde Zeit hätten, um die Sache hier persönlich zu besprechen. Ich kann immer abkommen!“
Vors.: Aus allen Briefen geht mit Evidenz hervor, dass Sie nur Ihr Rächer und Richter sein wollten. Ich kann Ihnen nur raten, Ihr Schriftstellertum einzustellen. Wenn Sie wirkliche Missstände rügen, so wird Ihnen dies kein Mensch verwehren; Missstände herrschen in jeder Stadt. Aber eine sachliche Kritik ist Ihnen nicht gegeben. Sie werfen alles in einen Topf und bedecken es mit einer Flut der schwersten Beleidigungen und Verdächtigungen. Dass Sie dafür eine strenge Strafe zu vergegenwärtigen haben, muss Ihnen doch klar sein.
Angekl: Ich schreibe so, wie ich die Worte im Munde habe. Irgendjemand beleidigen wollte ich nicht, ich wollte nur Übelstände abstellen!
Es wird dann Herr Erster Bürgermeister Schaefer als Zeuge vernommen. Derselbe bekundet, dass er dem Angeklagten niemals etwas zu leide getan habe. Das Verhältnis zwischen städtischer Verwaltung und Bürgerschaft in Herne sei ein derart schönes, wie kaum in einer anderen Stadt Westfalens. Nur Bösser sei der Unzufriedene.
Staatsanwalt Dr. Gerbaulet: Herr Bürgermeister, wenn Sie dem Angeklagten Hass nachtrügen, könnten Sie ihm nicht schon längst das Amt des Fleischbeschauers genommen haben?
Vors.: Sind Sie dazu in der Lage?
Zeuge: Jawohl, das könnte ich und zwar ohne Angabe von Gründen. Ich habe es aber nicht getan, obwohl das Gericht in Essen ihn für geistesgestört erklärte: ich halte Bösser eben für gesund.
Vors.: Hören Sie, Angeklagter? Der Herr Bürgermeister hat Ihnen Ihr Amt trotz früheren Beleidigungen gelassen. Was dazu zu sagen?
Angekl.: Nichts.
Vors.: Welcher Beweggrund leitet Sie denn zu diesen Briefen?
Angekl.: wenn Sie mich ins Unglück stürzen wollen, dann tun Sie es!
Vors.: Ich verbitte mir derartige Bemerkungen, ich habe als Vorsitzender durchaus das Recht, von Ihnen Auskunft über die Beweggründe Ihres Tuns zu fordern. Wenn Sie darauf nicht antworten wollen, dann lassen Sie es!
Angekl.: Ich kann nur sagen, dass ich nicht beabsichtigt habe, den Bürgermeister zu beleidigen, auch den Magistrat nicht.
Herr, Bürgermeister Schaefer kommt dann eingehend auf die angeblichen Missstände zu sprechen und widerlegt im Einzelnen die grundlosen Vermutungen Bösses. Was den „Duzfuss“ angehe, so beliebe er einige ältere Bekannte aus der Feuerwehr, welche alle ehrbare Bürger wären, mit dem Vornamen anzureden, dabei aber doch niemals die anrede „Sie“ zu vergessen. Der Fall, welcher angeblich in einem Lokal passiert sei, wo er Stammgast sei, liege 12 Jahre zurück und habe mit dem Wirt nichts zu tun. Die betreffende Tat sei außerhalb des Hauses passiert, der Schuldige habe sich erschossen. Auch die Verdächtigungen, welche Bösser gegen die übrigen Herren ausgestreut, wären völlig grundlos. Er (der Herr Bürgermeister) werde jedenfalls nicht mit Leuten verkehren, an denen der geringste Makel hafte. Er sei viele Jahre Beamter und wisse als solcher, dass er in der Öffentlichkeit stehe und nicht so empfindlich sein dürfe, wenn städtische Dinge kritisiert würden. Die Bösserschen Vorwürfe hätten aber das Maß des Erlaubten überschritten und er sei es seiner ehre und seiner Stellung schuldig gewesen, dagegen sich zu wehren. Er habe durch diese unwahren Behauptungen die größten Ungelegenheiten erduldet und das müsse doch endlich aufhören.
Herr Bauunternehmer Sänger, von dem Bösser die Angaben über die schlechten steine erhalten haben will, erklärte, dass er nicht wisse, welches Material in Wirklichkeit zur Verwendung gekommen sei. Er habe nur gesagt, Bösser möge in der Stadtverordnetensitzung doch einmal anfragen, warum man die steine von der Schulze-Felschen Ziegelei genommen, die 2-3 Mark billiger wären, wie die Syndikatssteine.
Damit schloss die Beweisaufnahme.

Herr Rechtsanwaltschaftsrat Dr. Gerbaulet bemerkte in seinem Plädoyer, der Angeklagte habe als Mitglied der Stadtverordnetenversammlung das Recht, „Missstände in der Verwaltung zu rügen und auf deren Beseitigung zu drängen. Bösser sei aber entschieden zu weit gegangen, sodass von einem Schutz aus § 193 des Straf=Gesetzbuches nicht mehr die Rede sein könne. Wahrung berechtigter Interessen lasse den beleidigenden Inhalt der Briefe auf keinen Fall zu. Den Herrn Bürgermeister und den Herner Magistrat treffe nicht den geringsten Vorwurf. Der Angeklagte habe den Boden der sachlichen Kritik verlassen und sei mit Animosität vorgegangen. Ich würde eine ganz erhebliche Gefängnisstrafe in Antrag bringen, wenn ich nicht annähme, dass der Angeklagte von dem Wahne beseelt sei, dass ihm der Herr Bürgermeister und der Magistrat Unrecht tun. In dieser seiner Wahnidee glaubt er sich zu seinem Rächer und Richter aufschwingen zu dürfen und ergeht sich dabei in den schwersten Beleidigungen. Ich beantrage mit Rücksicht hierauf eine Geldstrafe von 300 Mrk und bitte, den beleidigten Herren die Publikationsbefugnis zuzusprechen.
Herr Rechtsanwalt Dr. Niemeyer aus Essen machte darauf aufmerksam, dass alle zu Anklage stehenden Briefe geschrieben worden, nachdem die Stadtverordneten über Bösser den Boykott verhängt hätten, der dahin ging, keinen seiner Anträge mehr zur Abstimmung zu bringen. Der Herr Bürgermeister habe diese Maßregel bestätigt. Ich hätte sie sonst nicht für möglich gehalten, denn sonst hätte ich dem angeklagten den Rat gegeben, dagegen beschwerdeführend vorzugehen. Meines Erachtens kann dem Angeklagten der Schutz des § 193 nicht verweigert werden. Auf den Ton der Briefe kommt es nicht an. Er kann sich einmal nicht saglich ausdrücken. Er hat das nicht gelernt. Der Styl seines Schreibens beweise seine schriftstellerische Unfähigkeit. Ich bitte um Freisprechung.

Nach etwa einstündiger Beratung verkündete der Vorsitzende gegen 7 Uhr abends folgendes Urteil:
Der Angeklagte ist der Beleidigung des ersten Bürgermeisters Schaefers, der Magistratsmitglieder der Stadt Herne und des Stadtbaumeisters Schubert schuldig und wird zu 9 Monaten Gefängnis verurteilt. Zugleich hat der Gerichtshof beschlossen, den angeklagten wegen Fluchtverdachts sofort zu verhaften.
Der Angeklagte hat die Vermutungen zur Wahrheit gemacht und die Absicht gehabt, sowohl den ersten Bürgermeister Schaefer, den Magistrat und den Baumeister Schubert zu beleidigen. Es liegen 2 Beleidigungen in 7 Fällen vor, die als erwiesen angenommen wurden. Er hatte das Bewusstsein, dass die Briefe Beleidigungen enthielten. Die Beleidigungen sind sehr schwer, sodass nicht auf Geldstrafe, sondern auf Gefängnis erkannt werden musste. Der Angeklagte ist abzuführen.

Ende? Das Reichsgericht hob am 19. Juni 1902 das Urteil auf und überwies es an das Landgericht Dortmund.[2] Es ging also weiter ...

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Quellen