"Ich wurde nie gefragt, wie es in Auschwitz war ..."

Aus Hist. Verein Herne / Wanne-Eickel
Channa Birnfeld
Der Originaltext/Artikel dieser Seite stammt von Channa Birnfeld und wurde für das Wiki redaktionell bearbeitet.
Autor Channa Birnfeld
Erscheinungsdatum 2010, in: Erinnerungsorte - Shoah-Denkmal, S. 5 u. 6

Vor fast 65 Jahren bin ich mit meinem Mann, meiner Schwester Olga und ihrem Ehemann in diese Stadt im Ruhrgebiet gekommen. In den Augen der Leute waren wir damals „Exoten", denn alle Leute wussten, wer wir waren und von wo wir kamen. Das war kein Geheimnis. Wir waren Überlebende. Meine Schwester und ich hatten Auschwitz[Anm. 1] überlebt und waren eine Woche vor Kriegsende auf unserem Todesmarsch[Anm. 2] von amerikanischen Soldaten befreit worden. Herne war für mehrere Jahre der Endpunkt unserer Odyssee durch die Nachkriegswirren. In unsere Heimat, der Stadt Klauseburg in den ungarischen Karpaten, gab es keine Rückkehr. Meine Eltern wurden in Auschwitz ermordet, und wir lebten mit der Vorstellung, derjenige, den wir mit den eigenen Augen nicht gesehen haben, der lebte nicht mehr. Wenn niemand mehr da war, warum sollten wir also zurück?

In Herne verkehrten wir in einem kleinen jüdischen Freundeskreis. Aber dadurch dass mein Mann von vor dem Krieg Kontakte nach Herne hatte, kamen wir auch schon mal mit dem einen oder anderen „Deutschen" privat zusammen. Bis mir eines Tages jemand sagte: „Diese Leute, mit denen ihr zusammen seid, das waren solche Nazis. Das waren die ersten, die ein Schild im Schaufenster hatten: ,Juden unerwünscht'." Ich hatte vorher alles geglaubt, was man mir erzählt hatte, von wegen: "Ja, unser Arzt oder unser Nachbar waren Juden und unser Vater hat dem geholfen ... ", aber nach dieser Erfahrung habe ich mich total abgekapselt und verkehrte nur noch in jüdischen Kreisen. Ich wollte niemanden mehr die Möglichkeit geben, mir etwas über die Vergangenheit vorzulügen.

Ende der 1950er Jahre erkrankte meine Schwester an Krebs. Wir hatten die Zeit der Verfolgung und Deportation zusammen überlebt - und im Lager nicht allein zu sein, bedeutete ein halbes Leben. Sie starb und wurde am 23. Dezember 1959 auf dem kleinen jüdischen Friedhof am Hoverskamp begraben. Sie war die letzte, die dort noch beigesetzt wurde. Ich ging damals nach Hamburg, aber um ihr Grab zu besuchen, komme ich immer wieder nach Herne. Ich bin mittlerweile die einzige, die den Friedhof noch regelmäßig besucht, um dort einem Angehörigen zu gedenken.

Channa Birnfeld im Gespräch mit dem Historiker Ralf Piorr

Viele Jahrzehnte habe ich über meine Erfahrungen in den Konzentrationslagern nicht gesprochen. Dieser Schock des Entwurzelt-Seins wirkte noch lange nach. Ich wurde aber auch niemals gefragt: "Wie war es dort? Was habt ihr durchgemacht?" Ob ich es überhaupt erzählt hätte? Ich weiß nicht, denn es ist für einen Außenstehenden fast unmöglich, die Details des Lagerlebens in ihrer Tragweite zu begreifen. Wenn ich sagte:"Also weißt du, wenn ich denke an die Zählappelle bei Regen". Schluss. Es fehlen die Worte, um die Bedeutung zu beschreiben. Nur der, der auch im Lager war, verstand, was ich meinte.

Mitte der 1990er Jahre begann ich von meinen Erfahrungen öffentlich zu berichten, aber nur vereinzelt, denn es fällt mir bis heute schwer. Am 27. Januar 2005 wurde ich von der Stadt Herne als Ehrengast zur Einweihung der ersten Erinnerungstafeln an die jüdische Gemeinde eingeladen. Jetzt, fünf Jahre später, wird das Denkmal für die Opfer der Shoah der Öffentlichkeit übergeben. Ich habe diesen Prozess so gut ich konnte über die Jahre hinweg begleitet. Vor allem das Zusammentreffen mit der jungen Generation hat mich stets bewegt und beeindruckt. Über die Konzentrationslager können dese jungen Menschen sonst nur abstrakt etwas erfahren. Aber wenn sie einen ganz normalen Menschen sehen wie mich, der sich bis auf das Alter nicht von ihnen unterscheidet, der über seine Erfahrungen in Auschwitz berichtet, vielleicht können sie dann eher begreifen. Schließlich ist es diese Generation, die andere Werte weiter tragen und verwirklichen soll.


Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Stadt Herne

Anmerkungen

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Quellen

Erinnerungsorte - Shoah-Denkmal - Zum Gedenken an die Opfer der Shoah aus Herne und Wanne-Eickel - Eine Dokumentation von Ralf Piorr im Auftrag der Stadt Herne, Herausgeber: Stadt Herne, 2010