Der Meineidsprozeß gegen die deutschen Bergarbeiter (Baukau 1895) IV
Nachfolgend befindet sich ein Zeitschriftenartikel aus dem Jahre 1910, welcher über die Wiederaufnahme des Meineidprozesses aus dem Jahre 1895 folgte. Im ersten Teil konnten die Gerichtssache ansich, im zweiten Teil verschiedene Begleitartikel nachgelesen werden. Es folgte im dritten Teil der Veruch einer Wiederaufnahme im Jahre 1897. Beachten sie bitte, diesen Artikel im Kontext und mit dem Hintergrund der gesellschaftlichen Umschichtungen seiner Zeit zu betrachten. Die Rechtschreibung ist, mit einigen Veränderungen, Original.
Zum Essener Meineidsprozeß
(Sache Schröder u. Genossen).[1]
Nach viertägiger Verhandlung hat sich in Essen der Vorhang über eine Justiztragödie gesenkt, die für die gesamte Gewerkschaftsbewegung von außerordentlich großer Bedeutung von Beginn ab und auch in ihrem ganzen Verlauf war.
Der Prozeß ist erwachsen auf dem Kampffeld der christlichen und der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung, so hat mit einer gewissen Berechtigung der Vorsitzende in seiner Ansprache an die Geschworenen ausgeführt. Nur die älteren Kollegen werden sich der dem ganzen Prozeß zugrunde liegenden Vorgänge noch etwas erinnern, liegen die Ereignisse doch heute mehr als 15 Jahre zurück. Der Essener Meineidsprozeß hat eine lange Geschichte.
Im Jahre 1889 würde in Bochum der Bergarbeiterverband gegründet. Bald darauf wurden auch von Zentrumsanhängern Versuche gemacht, eine christliche Organisation ins Leben zu rufen. Nach einigen vergeblicher-Bemühungen gelang es schließlich, den sogenannten Gewerkverein christlicher Bergarbeiter zu gründen. Unter dem jetzigen Landtagsabgeordneten Brust begann die christliche Organisation alsbald einen regelrechten Verleumdungsfeldzug gegen den Verband der Bergarbeiter. Im Gegensatz zu den freien Bergarbeitern standen den Christen" natürlich Lokale allerorts zur Verfügung, wohingegen dem alten Bergarbeiterverband alle Säle in der unglaublichsten Weise abgetrieben wurden. Die Führer des alten Verbandes mußten deshalb wohl oder übel in die Versammlungen des christlichen Gewerkvereins gehen, wenn sie den gegen sie verbreiteten Verleumdungen entgegentreten wollten. Eine dieser christlichen Versammlungen fand am 3. Februar des Jahres 1895 in Baukau bei Herne statt. Der jetzige Zentrumsabgeordnete Brust leitete die Versammlung. Der damalige erste Vorsitzende des Bergarbeiterverbandes, Ludwig Schröder, und einige seiner Freunde waren zu der Versammlung erschienen. Als von Anhängern des alten Verbandes zu Beginn der Versammlung Bürowahl gefordert wurde, forderte Brust sofort Schröder und seine Freunde auf, den Saal zu verlassen. Gleichzeitig hat Brust den überwachenden Beamten, Gendarm Münter, ihm (Brust) beizustehen. Schröder wollte den Saal verlassen, an der Saaltür, am Kassentisch, verlangte er sein Entree zurück. Der Gendarm war ihm schon auf dem ganzen Wege gefolgt, an der Tür faste der Gendarm dann Schröder in den Nacken und stieß ihn zweimal zur Erde. Schröder ging dann mit seinen Freunden nachhause. Über diese Vorgänge brachte das Organ des alten Verbandes einen Bericht, der zu einer Anklage gegen den Redakteur führte. In dem Prozeß beschwor der Gendarm, Schröder nicht gestoßen und auch nicht angefaßt zu haben. Einige christliche Zeugen beschworen, sie hätten es sehen müssen, wenn Schröder von dem Gendarm gestoßen worden wäre. Schröder und sechs andre Mitglieder des alten Verbandes, darunter der Kassierer des Verbandes, Meyer, ferner die Bergleute Gräf, Imberg, Beckmann, Thiele und Wilking bekundeten unter ihrem Eide, die in dem Verbandsorgan gegebene Darstellung sei richtig. Der Redakteur wurde dennoch verurteilt, und Schröder und seine Freunde, die beschworen hatten, daß der Gendarm gestoßen habe, wurden - verhaftet. Am 17. August 1895 verurteilte das Essener Schwurgericht die Angeklagten zu insgesamt 18 ½ Jahren Zuchthaus und sechs Monaten Gefängnis wegen wissentlichen Meineides. Das Urteil erregte allgemeines Aufsehen. Außer dem Gensdarm hatte in der Verhandlung kein weiterer Zeuge bekundet, Schröder sei nicht gestoßen worden, nur dahingegen bekundeten eine ganze Anzahl Zeugen, daß der Gendarm Schröder zweimal gestoßen habe. Gegen das Urteil wurden selbst in weiten Kreisen der Bürgerschaft starke Bedenken laut und zwar umso mehr, als der Staatsanwalt einen direkten Gegensatz zwischen den christlichorganisierten Bergarbeitern und den freiorganisierten zog und die ersteren als glaubwürdig bezeichnete; wohingegen er behauptete, daß die Angehörigen des freien Bergarbeiterverbandes keinen Glauben verdienten. Da die Beweisaufnahme selbst für die Schuld der Angeklagten außer dem Zeugnis des Gendarmen nichts ergeben hatte, so bleibt für das ungeheuerliche Urteil nur die Erklärung, daß auch die bürgerlichen Geschworenen sich die verhängnisvollen Argumente der Staatsanwaltschaft zu Eigen gemacht haben. Diejenige Presse, die die wirtschaftlichen Kampfesorganisationen der modernen Arbeiterschaft von jeher skrupellos und mit jedweden Mitteln zu bekämpfen versucht hat, jubilierte über das Urteil und prophezeite den freien Verbänden ein nahes Ende.
Gegen die Glaubwürdigkeit des alleinigen Belastungszeugen Münter wurden sehr bald erhebliche Zweifel laut. Das Dortmunder Landgericht bezeichnete Münter als einen Zeugen, der an einer auffälligen hochgradigen Vergesslichkeit leide. Der Verteidigung stellten sich auch noch weitere Zeugen zur Verfügung, die die Richtigkeit der von Schröder Saat, und seinen Freunden bekundeten Aussagen zu bestätigen bereit waren. Die Verteidigung ließ denn auch kein Mittel unversucht, um eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu erreichen. Die Gerichte lehnten jedoch diese Anträge zu wiederholten Malen ab. Erst im März des vergangenen Jahres, nachdem die Verteidigung über den Gendarm Münter ein vernichtendes Material zusammengetragen hatte, ordnete das Oberlandesgericht in Hamm die Wiederaufnahme des Verfahrens an. Die erneute Verhandlung fand in den Tagen vom 30. Januar bis zum 3. Februar vor dem Essener Schwurgericht statt. Die Anklage erlitt einen schmählichen Zusammenbruch: Der einstige Kronzeuge der Staatsanwaltschaft, der inzwischen allerdings verstorbene Münter entpuppte sich als ausgesprochener Verbrecher, der von „rechtswegen" schon vor der Verurteilung Schröders hinter Schloß und Riegel gehörte. Als Brigadeschreiber hat Münter Anfang der neunziger Jahre in Münster die Heiratsgelder seiner Kameraden unterschlagen.
Şeine Vorgesetzten mußten in der erneuten Verhandlung bekunden, daß Münter im Dienst ein aggressiver, zu Tätlichkeiten neigender Mensch gewesen sei. Ein früherer Dienstkamerad erklärte er glaube Münter nicht, auch dann nicht, wenn dieser geschworen habe. Ferner wurde festgestellt, daß Münter in den letzten Jahren in unzähligen Fällen den Versuch gemacht hat, in Berlin und Umgegend gegen schwere Entschädigungen Leute zum Meineid zu verleiten. Münter starb, als die Berliner Staatsanwaltschaft gegen ihn Anklage wegen Verleitung zum Meineid erhoben hatte.
Das positive Zeugnis“ des einzigen Tatzeugen für die Schuld Schröders und seiner Freunde entfiel mithin für die zweite Verhandlung ohne weiteres. Aber auch jetzt vermochte die Staatsanwaltschaft nicht einen einzigen Zeugen beizubringen, der bekundet hätte, Münter habe den Schröder nicht gestoßen. Dahingegen erklärten in der neuen Verhandlung wiederum etwa 12 Zeugen, daß sie aufs Deutlichste gesehen hätten, wie Schröder von Münter gestoßen worden sei.
Unter der Wucht der erneuten Beweisaufnahme sah sich denn auch der jetzige Vertreter der Staatsanwaltschaft gezwungen, die Anklage gegen die Angeklagten fallen zu lassen und den Freispruch zu beantragen. Die Geschworenen verneinten sämtliche Schuldfragen, und die Angeklagten wurden freigesprochen. Damit ist allerdings eins der schlimmsten Klassenurteile juristisch beseitigt.
Dieser Rehabilitierung bedurften die Angeklagten natürlich nicht. Sie waren von der gesamten Arbeiterschaft nicht geächtet, sondern geachtet.
Schröder ist heute noch 2. Vorsitzender des alten Bergarbeiterverbandes. Das ungeheuerliche und ebenso ungerechte Urteil hat man aufgehoben, das den unschuldig Verurteilten zugefügte Unrecht vermag keine Macht der Welt zu beseitigen. Für die unsagbaren großen Opfer, die die unschuldig, zu schweren Zuchthausstrafen Verurteilten erlitten haben, muß sie der Dank der gesamten modernen Arbeiterschaft entschädigen Diejenigen aber, die von dem Urteil eine Vernichtung der modernen Arbeiterbewegung erwünschten und erhofft hatten, haben sich verkalkuliert. Die freiorganisierte Arbeiterschaft ist machtvoll vorwärts geschritten.
Herr Brust und die übrigen christlichen Führer die in jene Baukauer Versammlung alle verfügbaren Polizeimannschaften zu entsenden baten, mögen es mit ihrem Gewissen ausmachen, daß sie die Veranlassung zu dem schweren Schicksal der unschuldig Verurteilten gegeben haben. Diejenigen unsrer blindwütenden Gegner, die die Essener Meineide den gesamten Gewerkschaften an die Rockschöße hängen wollten, werden betrübten Herzens sehen müssen, daß nach nochmaliger gründlicher Prüfung auch ein bürgerliches Geschworenengericht gezwungen war, den damals Verurteilten zu attestieren, daß sie untadelhafte Ehrenmänner seien. Das jene Leute gewiss nicht unterlassen, aber die Gewerkschaftsbewegung wird weiter marschieren, wie sie trotz des ungerechten Essener Urteils marschierte.
Verwandte Artikel
- Der Meineidsprozeß gegen die deutschen Bergarbeiter (Baukau 1895) III (← Links)
- Der Meineidsprozeß gegen die deutschen Bergarbeiter (Baukau 1895) V (← Links)