Heiligabend auffem Pütt
Es war die Woche vor Weihnachten. Wir alle wussten, auch über die Feiertage musste gearbeitet werden. Da wurden zwar keine Kohlen gefördert, aber notwendige Wartungs- und Instandsetzungsarbeiten, die keinen Aufschub duldeten, standen wie immer an. Daher fuhr der zuständige Maschinenreviersteiger an diesem Morgen auch früher an, denn er wollte seine Mannschaft, bevor sie im dunklen, unterirdischen Reich des Bergmannssprache P#Pütt Pütts verschwanden, um dort an den oft kilometerweit entfernten Betriebspunkten ihren technischen Aufgaben nachgingen, über die bevorstehenden Tage informieren. „Ihr wisst, auch an Heiligabend und an den beiden Feiertagen brauchen wir eine Mannschaft“, meinte unser Steiger nachdem üblichen „Glückauf“ und sah sich um. Diese Aufgabe fiel unserem Vorgesetzten nicht leicht, denn er wusste, vor allem Familienväter verbringen solche Tage gerne daheim bei ihren Liebsten. Daher animierte er vor allem Junggesellen, doch die Mittagsschicht an Heiligabend, die von 14 bis 22 Uhr dauerte, und an den folgenden zwei Feiertagen zu übernehmen.
Ich meldete mich freiwillig, auch Volker, Lothar und Heinz, der „Chef“ der Lokschlosser, stimmten der Heiligabendschicht zu. Volker, Lothar und ich, übernahmen die Kontrolle der Pumpen, die dafür sorgten, damit der Pütt nicht absoff – eine wichtige Aufgabe, die mit sehr viel Lauferei zu tun hatte. Wir Drei teilten uns so die Reviere ein. Lokschlosser Heinz, der bereits Famlienvater war, lachte und meinte: „Ich verlege die Bescherung einfach um ein paar Stunden vor. Meine Frau kennt das ja schon aus meinem langen Zechenleben. Aber wenn ihr zurück kommt, dann feiern wir ein wenig unterm Tannenbaum“.
Wir jungen Revierschlosser sahen uns an: „Feiern, hier im Lokschuppen“. Heinz nickte und grinste: „Klar, ich besorge den Tannenbaum, ihr bringt Würstchen und Karoffelsalat mit. Und du,“ dabei zeigte er auf mich, „besorgst etwas Baumschmuck“. Unverständlich sah ich Heinz an, hob die Schultern. „Du machst das schon“, war die knappe Antwort des Lokschlossers aus Herne-Horsthausen.
Heiligabend, so gegen 13.55 Uhr, standen wir zusammen mit einem Dutzend weiterer Kumpels, die ebenfalls anschließend in dem weitläufigen Grubengebäude der Herner Zeche Friedrich der Große unterwegs war, auf der Hängebank. Ungläubig starrten wir Lokschlosser Heinz an, der unter dem rechten Arm einen kleinen Tannenbaum trug. Vorsichtshalber hatte er das Bäumchen noch mit Schießdraht, den man überall im Untertagebetrieb in den Kohlewagen fand, gewickelt.
Die anderen Schlosser hatten ihre von Heinz eingeforderten Utensilien in den schwarzen Werkzeugtaschen verstaut. Der Anschläger, der Kumpel, der für den reibungslosen Ablauf der Seilfahrt und Förderung am Schacht 4 verantwortlich war, lächelte nur und schüttelte den Kopf, als Heinz, gefolgt von Lothar, Volker und mir, den Förderkorb betraten, der uns zur 5. Sohle in fast 600 Meter Tiefe bringen sollte.
Auf dem anschließenden Weg zum Lokschuppen, der Werkstatt der Grubenschlosser, verzog Lothar das Gesicht. Volker fragte ihn: „Was ist los, alter Kumpel“.
Lothar blieb auf dem Fahrweg stehen und zeigte auf seine Backe, die inzwischen angeschwollen war: „Zahnschmerzen“.
„Das hat uns gerade noch gefehlt“, maulte Heinz, stapfte aber weiter, gefolgt von der Heilgabendmannschaft.
„Wo hast nur den Baum eigentlich her,“ wollte ich wissen. Heinz grinste, drehte sich um: „Na, woher wohl, aus unseren Zechenwäldchen an der Schachtstraße. Da kommen wir doch immer vorbei – vor und nach der Schicht“.
„Achso, ich nicht, ich wohne ja in der Stadtmitte“. Heinz sagte nichts. Inzwischen hatten wir den Lokschuppen, ein gutausgebautes Streckenstück, etwa 50 Meter lang, gefüllt mit Maschinen aller Art, die zur Instandsetzung vor Bergbaugerät notwendig waren: Drehbänke, Bohrmaschinen und Fräsbänken, erreicht. Nur eine Schweißkammer gab es aus Sicherheitsgründen hier nicht. Eine Schweißerwerkstatt gab es nur in der übertägigen Grubenschlosserwerkstatt in der Nähe des Schachtes 3 (heute LWL-Museum Zollern).
Stöhnend ließ sich Lothar auf den „Gezähkisten“, die sich im hinteren Teil der Werkstatt befanden nieder und eigentlich nur als Sitzeinrichtung während der üblichen Butterpausen dienten. Volker sah ihn an: „Zeig`mal“. Lothar schüttelte den Kopf. „Nun mach schon, ich schaue mal deine Zähne an“.
Er schüttelte den Kopf und stellte fachmännisch fest: „Der hintere Backenzahn ist wohl entzündet“.
Lothar stöhnte und nickte: „ Ich weiß, der muss raus. Wollte aber die Schicht nicht verpassen. Komm, ziehe ihn raus.“
„Wie stellst du dir das vor, bin ja Grubenschlosser, kann Pumpen, Wettertüren und Panzerförderer instandssetzen, aber Zähne ziehen...“
„Quatsch nich` herum, mach schon, nimm ne Zange und ziehe ihn heraus.“
Volker überlegte, sah sich um. Heinz und ich stimmten zu.
„Wenn Lothar es will, dann greife zu,“ antwortete Heinz, drehte sich um, um sich im vorderen Werkstattbereich den Vorbereitungen zur bevorstehenden Heiligabendfeier zu widmen.
Nach ein paar Minuten hatte es Volker tatsächlich geschafft: Mit einer neuen, noch origanalverpackten Zange, die er in seiner Werkbankschublade fand, entfernte er den schmerzenden Übeltäter. Lothar atmete befreit auf.
Danach gingen wir auf verschiedenen Wegen in unsere Reviere, ich fuhr an Schacht 3 hinauf zur 4. Sohle, besuchte alle Pumpen, die auf den Strecken lagen und kehrte so gegen 20 Uhr in den Lokschuppen zurück, wo Heinz, Volker und Lothar schon auf mich wartete.
„Alles klar, nichts besonderes in den Revieren,“ meldete ich Drittelführer Heinz, der mich danach aufforderte den Baum zu schmücken. Aus der Werkbank zauberte ich selbstgefertigte silberne Sterne, Monde und Sonnen hervor, die ich am Bäumchen drapierte.
Heinz opferte schließlich noch eine alte Prisenpulle.
Wir lachten. „Iss ja ein bergmännischer Baum“.
Auf der Werkbank der Lokschlosser hatte Heinz während unserer Abwesenheit eine kleine Küche aufgebaut – unerlaubter Weise – denn zuvor geprüfte Elektrogeräte waren hier nicht erlaubt. Der Lokschlosser stellte die geöffnete Dosen mit den Würstchen – er gab noch etwas in der Kaffeepulle mitgebrachtes „Kraneberger“ hinzu – auf den kleinen elektrische Kocher. Es gab Kartoffelsalat und heiße Würstchen. Es schmeckte allen. Auch Lothar, der sich vom Zahnziehen sichtlich erholt hatte, ließ es sich schmecken.
„Zu Hause spüle ich kräftig mit Grubenwasser nach“, war seine Antwort.
Nach dem Essen saßen wir noch eine Weile stumm um den Baum, der auf der Werkbank stand, herum. Heinz summte plötzlich: „Oh Tannenbaum, oh Tannnebaum“. Wir sangen mit. Pünktlich um 22 Uhr fuhren wir aus. Es war ganz still. Keiner sagte ein Wort. Mit „Frohe Weihnachten“ und dem üblichen Glückauf,“ machten wir uns nach dem Duschen auf die Heimwege. Als ich nach Hause kam, lag meine Familie schon im Bett. Meine Geschenke hatte ich vorher schon meiner Mutter, mit er Bitte, sie unter den Tannenbaum im Wohnzimmer zu legen, überreicht. „Junge, dass du an so einem Tag ...“ Ich winkte ab: „Mutter, Es ist wie es ist“. Wir feiern ja noch öfters Weihnachten zusammen“.
Im Wohnzimmer entdeckte ich auch mein Geschenk: Einen neuen Arbeitsblaumann, eine neue Kaffee- und eine neue Prisenpulle. Alles sehr praktisch, für jemanden, der auf dem Pütt malocht.
Es war übrigens die letzte Weihnachtsfeier im Lokschuppen von „Piepenfritz“, denn das Zechenwäldchen, in dem Heinz immer am Tag vor Heiligabend ein kleines Bäumchen fällte, verschwand in diesem Jahr. Das Areal wurde nämlich zur Errichtung eines neuen Zentralschachtes, dem Schacht 6, benötigt, der aber ebenso wie die anderen „Piepenfritz-Schächte“ 1978 endgültig verfüllt wurde. [2]
Diese Geschichte ist auch in der Kirchenzeitung "Der Dom" Nr. 51/52 am 22. Dezember 2017 erschienen
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Einzelnachweise
- ↑ Dieser Text wurde von Friedhelm Wessel zur Verfügung gestellt. Der Text darf nicht ohne Genehmigung verändert oder weitergegeben werden.
- ↑ Ein Artikel von Friedhelm Wessel