Gastarbeiter
Susanne Peters-Schildgen
In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre war der Ruhrbergbau in vergleichbarer Weise auf auswärtige Arbeitskräfte angewiesen wie die Zechen im 19. Jahrhundert. Sowohl die Anwerbepraxis der Zechenagenten früher als auch die von 1955 bis 1968 zwischen der Bundesregierung und Italien, Spanien, Griechenland, der Türkei, Marokko, Portugal, Tunesien und Jugoslawien geschlossenen bilateralen Anwerbevereinbarungen verfolgten das gleiche Ziel: die Steigerung der Wirtschaftskraft in einer von konjunkturellem Aufschwung geprägten Zeit. Die ersten italienischen Gastarbeiter arbeiteten bereits im Frühjahr 1956 auf der Zeche "Unser Fritz" und für die bundesweit tätige Baufirma Heitkamp in Wanne-Eickel. Im November 1960 trafen 87 griechische Bergleute aus Mazedonien in Herne ein, die nach sechswöchiger Ausbildungszeit im Untertagebetrieb tätig waren.
In der Beschäftigung der sogenannten Gastarbeiter, bei denen es sich - gemessen an der Zuwanderungswelle Anfang 1900 - um eine relativ kleine Gruppe handelte, sah man eine vorübergehende, am Bedarf des Arbeitsmarktes orientierte, profitable Maßnahme bei vergleichsweise geringer Investition. Die zugewanderten Arbeitnehmer übernahmen jeweils eine "Entlastungsfunktion", indem sie die weniger attraktiven Arbeitsplätze besetzten. Mit der industriellen Arbeit wenig vertraut, wurden sie für körperlich besonders anstrengende, schmutzige Tätigkeiten im Hoch- und Tiefbau sowie in den Bergwerksbetrieben herangezogen, machten Überstunden, verzichteten auf Konsum und höheren Wohnstandard, um sich mit dem Ersparten im Heimatland eine neue Existenz aufzubauen. Daran orientierte sich zunächst auch die Betreuung der ausländischen Arbeitnehmer. Sie beschränkte sich hauptsächlich auf berufsbezogene fachliche und sprachliche Ausbildungsmaßnahmen, die aus Sicherheitsgründen für die gefährlichen Arbeiten unter Tage erforderlich waren. Seit 1969 nutzte die Wanne-Eickeler Bauunternehmung Heitkamp das von der Bergwerksgesellschaft "Hibernia" erworbene Berglehrlingsheim (Barbaraheim) in der Ackerstraße als Wohn- und Ausbildungsheim für ihre ausländischen Mitarbeiter. Hier wurde ihnen durch innerbetriebliche Fortbildungsmaßnahmen die Möglichkeit zur beruflichen Weiterqualifizierung geboten.
Auf die Rezession von 1966/1967 folgte eine Hochkonjunktur, in welcher dem wachsenden Bedarf an Arbeitskräften durch die Massenanwerbung ausländischer Arbeiter begegnet wurde. Im Juni 1970 begrüßte Robert Heitkamp den 3.000. Gastarbeiter in seinem Unternehmen. Andere Betriebe, wie Blaupunkt und Schwing, rekrutierten ihre Mitarbeiter ebenfalls zum größten Teil aus dem Ausland. Ende 1972 lag der Anteil der türkischen Arbeitnehmer an der Gesamtbelegschaft der Zeche "Friedrich der Große" in Herne-Horsthausen bei 25 %. Zum Vergleich: Anfang 1900 kamen 62,5 % der Belegschaft derselben Zeche aus dem preußischen Osten.
Mit der steigenden Aufenthaltsdauer der Gastarbeiter und zunehmenden Familiennachzügen stellte sich der Bundesregierung die Frage nach dem wirtschaftlichen Nutzen der ausländischen Migranten in
Deutschland. Die Gastarbeiterbeschäftigung wurde zum "Gastarbeiterproblem". Mit dem Anwerbestopp im November 1973 brach der Gastarbeiterzustrom abrupt ab. Langfristig führte diese Maßnahme jedoch zu einer entgegengesetzten Entwicklung, da sich die ausländischen Arbeitnehmer trotz herrschender Wirtschaftskrise auf einen längeren bzw. unbegrenzten Aufenthalt in der Bundesrepublik einrichteten und ihre Familien nachholten. Aus den Gastarbeitern wurden Einwanderer, deren Lebenssituation nicht mehr den Charakter des Provisorischen trug.
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Quellen
- ↑ aus: Auf dem Weg ins Paradies? Wanderungsbewegungen im Ruhrgebiet am Beispiel Herne, Seiten 15 - 17