Eisenbahnunfall 1898

Aus Hist. Verein Herne / Wanne-Eickel
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"Ein gräßliches Eisenbahnunglück trug sich gestern in unserer nächsten Nähe auf Station Herne zu. Der Schnellzug Hannover=Köln ist an der Station Herne 10 Uhr 15 Min. vormittags entgleist. Bei dem Unglück haben fünf Personen ihren Tod gefunden. Von den Getöteten war zweien der Kopf thatsächlich vom Rumpfe getrennt; es waren dieses der Oberlehrer Steven aus Bielefeld und der Gasdirektor Lilienfeld aus Eickel, ferner sind getötet der Kaufmann Güth aus Gütersloh, Kaufmann Rosenberg aus Münster und L. Mülder, Emsdetten. Von den Schwerverletzten wurden 8 in das kathol. Krankenhaus und fünf in das evang. Krankenhaus in Herne gebracht.

Die „Herner Zeitung“ schreibt heute: Unsere Stadt steht heute unter dem Eindruck eines gewaltigen Eisenbahnunglücks. Der Schnellzug N. 20 Berlin=Köln, welcher fahrplanmäßig um 10,15 Uhr morgens die hiesige Staiton ohne Aufenthalt zu passieren hat, ist um diese Zeit etwa 100 Meter vor dem Statiousgebäude entgleist.

Von Dortmund über Rauxel kommend, sollte er durch das erste Geleise geleitet werden. An einer englischen Weiche (Herzstück mit 4 Ausläufen) ging die Maschine, der Pack und der Postwagen statt in das erste Geleise in das 3. die beiden nachfolgenden Wagen mit Abtheilen 1. und 2. Klasse wollten ins erste Geleise rollen, wurden aber herausgerissen und schleiften auf dem zweiten Geleise nebenher, während die nächstfolgenden Wagen, meistens mit Abtheilen 3. Klasse, in das erste Geleise gingen. Die beiden ersten Wagen hinter dem Postwagen wurden so etwa 70—80 Meter weit querstehend mitgeschleppt, als die Kuppelung riß und beide Wagen mit großer Wucht umstürzten. Die Maschine lief noch etwa 40—50 Meter weit und konnte erst dann zum Stillstehen gebracht werden. Die Maschine ist nicht entgleist, der Packwagen aber mit den Rädern der Vorderachse und der Postwagen mit der Mittelachse; hierdurch wurden die Geleise stark verbogen, am Postwagen auch an einer Stelle der Boden eingedrückt.

Schaurig war der Anblick der beiden übrigen Wagen, welche sich vollständig auf die Seite gelegt hatten. Die in ihnen untergebrachten Reisenden hatten gleich bei Eintritt der Katastrophe, in böser Vorahnung, sich an die Fenster begeben, um nach der Ursache zu schauen. Hierbei ereilte sie das Verhängnis, indem sie beim Umfallen des Wagens erdrückt, und soweit nicht erheblich verletzt, sofort getötet wurden. Ein zwischen den Geleisen stehender Wasserkrahn, wie er zum Speisen der Lokomotiven gebraucht wird, wurde durch die zwei Wagen glatt abgebrochen. Der nächste Wagen mit Abtheilen 3. Klasse blieb auf dem 1. Geleise stehen. Die im ersten Abtheil sitzenden Reisenden kamen glücklich davon, während diejenigen des zweiten und dritten Abtheils im selben Wagen leichte Verletzungen erhielten, indem die Seitenwand eingedrückt war und lange Splitter in das Innere geschleudert wurden. Einem am Fenster sitzenden Herrn wurde die Hand erheblich verletzt.

Recht schwierig gestaltete sich das Rettungswerk. Zwei Wagen lagen auf der Seite und es mußte deshalb mit Leitern von oben eingestiegen werden; die Thüren hatten sich verbogen und konnten deshalb schwer geöffnet werden. Was noch am Leben war, kletterte hinaus, während 2 Tote und 3 Schwerverletzte auf der Leiter festgebunden und so ans Freie transportiert wurden.

Die Schreckenskunde drang sehr bald in die Stadt und es war desbalb sehr schnell Hülfe zur Stelle. Beherzte Männer faßten kräftig zu, sämmtliche hiesige Aerzte waren bald zur Stelle und dreiviertel Stunden nach der Katastrophe waren schon alle Leichtverletzten verbunden und die Schwerverletzten in die beiden hiesigen Krankenhäuser geschafft. Gleichfalls waren Geistliche zur Stelle.

Ein buntes Durcheinander boten die Wartesäle, welche förmlich einem Lazarett glichen. Im Telegraphenbureau lagen eine Menge Reiseutensilien, die im ersten Schrecken von den Reisenden in Stich gelassen waren und nach und nach zurückgefordert wurden; ein ganzer Berg von Taschen, eingedrückten Hüten, Schirmen und Decken lag dort.

Nach Feststellung der Identität der Leichen sorgte Herr Bürgermeister Schaefer für schonende Benachrichtigung der Angehörigen, während fast alle Reisenden (150—180) Telegramme aufgaben. Kurz nachher lagen schon ein Dutzend telegraphische Rückanfragen vor, die aber nicht ausgehändigt werden konnten, da die betr. Reisenden nicht bekannt waren oder sich in die Stadt begeben hatten.

Das Zugpersonal ist mit dem Schrecken davongekommen. Die Reisenden waren meist Westfälinger, besonders war in Dortmund eine große Anzahl von Kaufleuten eingestiegen, welche die Getreidebörse in Duisburg besuchen wollten. Die Toten und Schwerverwundeten boten einen grausigen Anblick. 2 Körper waren ohne Kopf, bei den übrigen das Gesicht vollständig unkenntlich zerfleischt, namentlich die Arme gebrochen, auch ist ein Beinbruch zu konstatieren. Tot waren sofort Gymnasiallehrer Dr. Steven, Bielefeld und Gasdirektor D. Lilienfeld, Eickel=Wanne. Von den Schwerverletzten starb einer auf dem Transport, zwei im kath. Krankenhause: Gottfried Güth, Gütersloh; L. Mülder[1], Emsdetten und L. Rosenberg, Münster. Die Verletzten, soweit sie freiwillig gemeldet haben oder sich im hiesigen evangelischen und katholischen Krankenhause befinden, sind: Heinrich Pitsch, Münster; Ernst Lehmann, Dortmund; R. Lemaitre, Dortmund; Frau Lemaitre, Dortmund; Fr. Juckenack, Duisburg; Edmund Götze, Charlottenburg; Max Guthmann, Münster; Robert Vaerst, Unna; D. Külsheimer, Dortmund; L. Nordhoff, Dortmund; R. Schmidt, Magd.=Buckau; Ernst Pitsch Bielefeld; Christian Müller, Essen; Hermann Rosenberg, Hamm; Daniel Müller, Rosenfelde=Westpreußen; Dora Leweling, Lünen a..; Hartog Neumark, Duisburg; D. Leeser, Dortmund; A. Alsbach, Dortmund; H. Vogt, Dortmund; E. Kallenbach, Herne; F. Bartels, Duisburg; Osthues, Köln; D. Lehmanu, Dortmund; Th. W. Stollmann, Wanne.

Durch das Unglück waren sämmtliche Geleise gesperrt. Der von Station Wanne kommende Hilfszug nahm die Passagiere auf, und konnten dieselben gegen 12 Uhr die Weiterreise antreten. Der durchgehende Verkehr wurde von Wanne größtentheils über Bochum geleitet, die Passagiere etlicher Züge mußten an der Unfallstelle um steigen. Nachmittags war Geleise 4 freigemacht worden, wozu die von der Direktion eingetroffenen Beamten Hülfskräfte von Wanne, Dortmund und Witten requiriert hatten. Wohl 150 Arbeiter sind heute Nachmittag emsig thätig, um die vielen verbogenen Schienen und verrückten Schwellen auszuwechseln und die Wagen zu heben.

Zahlreich sind die Zufälle glücklicher Rettung. Gleich bei Eintritt der Katastrophe sprang ein Passagier aus dem Wagen und kam mit einer leichten Fußverstauchung davor. Ein in der Nähe stehender Rottenarbeiter erhielt von einem abspringenden Eisenstück eine Verletzung an [...]n, die indes nicht schwerer Natur ist. Ein Rei[sender ...]f in Dortmund einen Freund, der ihn veran[...]hm in einen Wagen 3. Klasse weiter hinten [...] er blieb gleichfalls dadurch unversehrt. [... Unglüc]ksstelle, namentlich die Brücke neben der [...] Tausenden Neugieriger belagert, darunter viele Auswärtige. Polizei und Gendarmerie ist zur Aufrechterhaltung der Ordnung zur Stelle. Viele Freinde sind eingetroffen, um sich nach dem Schicksal der Ihrigen zu erkundigen; die Telegraphenbeamten haben deshalb vollauf zu thun."[2]

Das Echo dieses Unglücks wanderte um die Welt:


Vorarlberger Landes-Zeitung vom 26. Januar 1898 S. 4[3]

"(Eisenbahnunglück.) Aus Essen a. d. Ruhr wird unter dem 24. d. M. berichtet: Der Schnellzug Nr. 20 Hannover-Köln entgleiste auf dem Bahnhofe Herne. Hiebei wurden 4 Personen: Oberlehrer Steffen aus Bielefeld, Gasdirector Keilienfeld aus Wanne, Kaufmann Güthaus aus Gütersloh, Kaufmann Rosenberg aus Münster getödtet. 11 Personen' schwer, 15 leicht verletzt. Die Schwerverletzten wurden sofort in den Krankenhäusern von Herne untergebracht. Der Postwagen und 8 Personenwagen sind schwer beschädigt. Die Strecke Wanne-Dortmund war bis 3 Uhr gesperrt."

Der Deutsche Correspondent. Baltimor 26. January 1898, Seite 1[4]

"Opfer einer Zugentgleisung.

Die Zugentgleisung bei der Station Herne der Bergisch - Märkischen und Emscherthalbahn, über welche schon gestern berichtet wurde, hat ernstere Folgen gehabt, als die ersten telegraphischen Berichte von dort melden. Aus der Stelle getödtet oder in Folge der bei der Katastrophe erlittenen schweren Verletzungen bereits gestorben sind Oberlehrer Steven von Bielefeld, Gas-Direktor Lilienfeld von Wanne. Ludwig Mülder von Dortmund, und die Kaufleute Güth von Gütersloh und Rosenberg von Münster. Die Zahl der noch am Leben befindlichen Verletzten, die voraussichtlich auch die erlittenen Verwundungen und Verletzungen glücklich überstehen werden, beträgt 26 Personen."

Voralberger Volksblatt vom 29. Januar 1898 S. 3 [5]

"Ein großes Eisenbahnunglück passierte am Montag 24. Januar 1898 um 1/2 7 Uhr in der Früh auf der Station Herne durch Entgleisung des Schnellzuges Hannover-Cöln. Der erste Bericht lautet: 4 Personen getödiet, 11 Personen schwer und 15 leicht verletzt.

Die „Frkf. Ztg." bringt noch folgende Einzelnheiten: Etwa 500 Meter von der Station Herne entfernt entgleisten infolge eines Desectes an der Schienenanlage die Locomotive, der Packwagen und der Postwagen, die von dem ersten Geleise quer auf das dritte Geleise sprangen, das Geleise aufrissen und etwa 1000 Meter fortrasten. Der erste Personenwagen, der 1. und 2. Classe führte, wurde aus dem Geleise geschleudert und stürzte auf die Breitseite. Ebenso der zweite Personenwagen, der beim Umstürzen den nächsten Wagen fast vollständig demolierte.

Die Insassen der beiden ersten Wagen wurden theils getödtet, theils schwer verwundet. Einem Passagier, der mit Stricken aus dem umgestürzten Wagen gezogen wurde, waren der Kopf und beide Arme abgetrennt. Der Kopf eines anderen Reisenden war in der Mitte gespalten. Zwischen den Trümmern lagen die abgetrennten Körpertheile: eine Hand, die noch in einen, Handschuh steckte, sowie Arme und Leine. Als der aus acht Wagen bestehende Zug auseinanderriss, sprang ein Passagier aus dem Wagen heraus, ohne ernstlichen Schaden zu nehmen. Zum Glück war der Zug nur mäßig besetzt. Der Materialschaden ist bedeutend. Die unter den Trümmern Begrabenen konnten nur mit äußerster Mühe aus ihrer schrecklichen Lage befreit werden. Von den in den Krankenhäusern untergebrachten Verletzten ist im Laufe des nachmittags einer gestorben, mehrere andere dürften schwerlich mit dem Leben davonkommen. Bei verschiedenen Verletzten musste zur Amputation geschritten werden. Die Aufregung über das Unglück ist ungeheuer."


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Quellen