Artikel "Emscherwellen"

Aus Hist. Verein Herne / Wanne-Eickel
Aus der Bürgerillustrierten "Herne - unsere Stadt - 01 / 1983" bearbeitet von Gertrud Frohberger
Mit freundlicher Genehmigung der Stadt Herne, Presseamt und des Stadtarchivs Herne

Emscherwellen

Die „Welle“ ist das momentane Schlagwort der Rockmusik; inhaltlich auszufüllen mit: eine „neue Welle“ oder „New Wave“ schwappt aus dem Ausland herüber, es kommen und gehen die Elektronik-, New Romantics- und Heavy Metal-Wellen. Zugegeben, oft ist es nur ein leises Plätschern. Aber dies soll hier kein Diskurs in die Fachsprache der Rockmusik werden, denn eine Bürgerillustrierte will auch den informieren, der bislang ausschließlich mit Bach und Beethoven, Heino und Maria Hellwig seine musikalische Begeisterung erschöpfte. Wenn sich die Fachsprache nicht vermeiden läßt, soll die Erklärung Lesern älteren Jahrgangs zur Verständigung mit Tochter und Sohn dienen. Im Folgenden wird über Rock, Folk, Jazz, Punk und New Wave in Herne berichtet; auch als Aufforderung zu mehr Toleranz. Auch wer keine „Connection“ (Verbindung) zu dieser Musik hat; ein „Geh mich weg mitti Negermusik“ ist auf jeden Fall fehl am Platz.

Die „Tage alter Musik“ und die Errichtung einer städtischen Musikschule verleiteten den Autor eines Artikel in der letzten „Unsere Stadt“ zu der Vermutung, Herne stünde das Image einer „Musikstadt“ gut zu Gesicht. Wie verkraftet der Bürger dieses ungewohnte Bild? Spürt er schon das Flair eines „Swinging London“ in Herne, versetzt er Chansons aus dem Pariser „Olympia“ ins Kulturzentrum? Wie jeder weiß, gehen sich die Stars der ernsten wie leichten Muse in Herne nicht die Klinke in die Hand und so fristet die Stadt eher ein Provinzdasein. Der Weg zur „Musikstadt“ ist weit; die barocke Pracht alter Instrumente allenfalls ein – und dazu ein elitärer- Baustein zu diesem Prädikat. Wieviel junge Herner lassen sich durch die Viola la Gamba faszinieren? Der Stargast auf der Cranger Kirmes wird zum Showhöhepunkt des Jahres mit gleichsam populären wie musikalisch unbedeutenden Künstlern vom Range eines Tony Marshall oder Roberto Blanco, „Der Mond von Wanne- Eickel“ ist höchster Ausdruck der heimatlichen Liebe zur Musik. Musikstadt?

Aber schließlich existiert sie doch, die Musikstadt Herne, ganz unten an der Basis. Eine Anzahl von Amateur- und Halbprofi-Bands im weiten Bereich der Jugendmusik sorgt für eine lebendige „Szene“, die sich mühsam einen Stellenwert erkämpft hat. Mühsam, trotz der nicht wenigen Widerstände; das Stichwort heißt: Musikalische Infrastruktur.

Noch vor wenigen Jahren spielte sich Rockmusik im Ruhrgebiet vorwiegend in der Westfalen- und Grugahalle ab, wo die internationalen Größen zu bestaunen waren, der Rest war nicht anders als „eine musikalische Wüste“ zu bezeichnen. Fast sämtliche Komponenten für eine funktionierende Musik fehlten, als da wären: ein Publikum, das bereit war, heimischen Gruppen zu lauschen, Nachwuchsarbeit, Plattenfirmen, Proberäume, Aufnahmestudios, Produzenten, eine Presse, die gezielt Ruhrgebietsklänge unterstützt.

Mittlerweile ist man hierzulande der Magie des Wortes „Infrastruktur“ auf die Schliche gekommen und in vielen der genannten Bereiche zeichnet sich eine positive Entwicklung ab.

Selbst in der kulturell so perspektivlos scheinenden 187 000 Seelen Gemeinde Herne deutet sich ein Durchbruch an. Nur einige bedeutende Anzeichen: Tonstudios wurden eingerichtet (Zeppo´s in Alt- Herne, Jedermann in Wanne) ein LP- Vertrieb in Eickel liefert für die ganze Bundesrepublik die eminent wichtigen Produkte der englischen Firma „Rough Trade“ aus, für die Schallplatten der erfolgreichen Wanner Combo „Vorgruppe“ ist die Firma „Nielsen 2“ verantwortlich, eine Musikinitiative (MI) als Zusammenschluß heimischer Musiker ist vielschichtig tätig, u. a. werden Auftritte (auch „Gigs“ genannt) organisiert und der Nachwuchs gefördert, so daß die MI als kompetenter Ansprechpartner in Sachen Musik nicht mehr wegzudenken ist. Die Zeitschrift „guckloch“ mit Sitz in Herne beschäftigt sich mit der Ruhrgebiets- und somit mit der hiesigen Musik. Immer neue Gruppen gesellen sich zu den schon etablierten (dazu später) aber auch die Probleme wachsen mit.

Spielen gerne, aber wo?

Geeignete Proberäume sind ständig gefragt und schwer zu finden, noch häufiger stellt sich das Problem der Zahl und Eignung der Auftrittsorte. Das Kulturzentrum fällt aus – lassen wir die Diskussion darüber ruhen – und viele Veranstaltungsorte in Gaststätten und Jugendheimen zeichnen sich nur durch ihre Kurzlebigkeit aus. Geschlossen haben in den letzten Jahren das "Podium", die "Apocalypse", das "Monopol" (wieder da, aber wie) der "Blaue Engel" in Röhlinghausen, die mit Engagement als Jazz-Kneipe betriebene "Klamotte", kurzzeitig als "Haus Gräwe" vom gleichnamigen Jazzer wiederbelebt. Die Gründe liegen zwischen mangelndem Interesse des Publikums und der Schließung wegen "Ruhestörung". Im Augenblick aktuell sind die "Sonne" für Folk, Liedermacher und engagierten Rock, der "Bunker" am Westring als Domizil modischer Musikströmungen, der "Meistertrunk" in Eickel als Reservat für bodenständige Blues- und Rock Gruppen, neueröffnet "Haranni" im ehemaligen "Lyceum", das Jazz-Treff werden soll. Gelegentlich finden Konzerte im Jugendheim (Heisterkamp), dem JuBB an der Wilhelmstraße, den Jugendkunstschulen Crange und Hauptstraße und der Teestube Eickel statt, man wird noch einige andere Orte finden. Da auch das Publikum nunmehr den lokalen "Acts" (Bands) einen Heimvorteil garantiert, könnte man gelöster in die Zukunft blicken.

Der Einstieg in die Filigranarbeit offenbart aber schnell weitere Schwierigkeiten, die hier in der Kürze nicht abgehandelt werden können: die Finanzierungsprobleme auf Seiten der Musiker, die immer noch nicht vorhandene Akzeptanz der Rockmusik bei den Kulturverwaltern an höherer Stelle und folglich mangelnde Unterstützungen, die Bereitstellung von stadteigenem Raum für Übungszwecke usw.

Aber nun zum wichtigsten Teil dieser Abhandlung, einer Übersicht über Herner Gruppen und Solisten.

Wer spielt was?

Zweifellos ist bisher die Hauptrolle im Herner Musikgeschäft dem Jazz zugedacht. Jazzer traten als erste erfolgreich über die Stadtgrenzen und errangen nationale Bekanntheit, Jazzer veröffentlichten die ersten heimischen LP's. Hier muß der Name Georg Gräwe fallen, der zusammen mit Harald Dau, Horst Grabosch, Hans Schneider und Achim Krämer auf dem Berliner Jazz- Label FMP '76 und '77 die Lp's New Movements und Ping Pong veröffentlichte. Anno `82 spielt Gräwe mit der New Jazz Formation Aiches & Paines. Weiterhin ist der Pianist Gräwe in der Bigband Grubenklammm-Orchester tätig. Einer seiner Mitstreiter ist hier Eckard Koltermann, der ansonsten mit dem Quartett Kollègas neue Wege im Jazz sucht. Weitere Jazz Gruppen sind Wolfgang Bökelmanns Trio Vital, New Set Music, eine stark am Experimentalen orientierte Kapelle, aus Alt-Herne die Dixieland-Combo New Haranni Poison Mixers: auch die kürzlich gegründete Formation Cromagnon kann dem Jazz zugerechnet werden.

Einige Herner Jazzer, darunter die überaus aktiven Brüder Charly und Uli Blomann, wirken zusätzlich in anderen Ruhrgebietsformationen mit: Noctett, Virgin's Dream, Great N'Daga Bluesband, Theo Jörgensmann Quartett. Auch das unterstreicht die Bedeutung dieser Musik in der Herner Szene.

Vom Jazz zum Blues. Hier sollten die Metamorphosis Blues Band und der phantastische Blues & Boogie Pianist Thomas Nowak herausgehoben werden, der vor allem bei seinen Konzerten mit dem Amerikaner Tyree Glenn jr. zu begeistern weiß.

Auch der Rock mit deutschen Texten ist in Herne vertreten: mit der Combo Pillenknick, Keuschheit und Demut, der Funk-Rock Gruppe Släsh`n Lubi und Herne 3, die zum Zeitpunkt der Anfertigung dieses Berichts allerdings nur als Projekt existieren; bei Herne 3 sollen der Ex-Blitzblank W. Berke und Theo Linke (Ex-Choice, Ex-Epidaurus) ihre Fähigkeiten vermitteln.

Dem traditionellen Rock haben sich Wombat; die Oldie- Truppe Divin' Ducks, die Hardrocker Crazy Harry, Kathy Hawk und Rabbit verschrieben. Rabbit sind übrigens mit einem Stück auf der LP "Die Wüste lebt" vertreten.

Die Neue Welle, das dt. Pendant zur engl. Punk und New Wave Musik, findet Vertreter in den Punk- Bands Corny Various und GSG 9, den Elektronikern The Horst und EIY. Erfolgreichste Formation in diesem Bereich ist allerdings die Vorgruppe, die auf eine Single und 2 LPs verweisen kann. Die Vorgruppe hat es geschafft, sich größtenteils von Vorbildern zu lösen und eigenständige Musik zu produzieren; ihre letzte Scheibe Menschenkinder ist beredtes Beispiel für ihren intelligenten Umgang mit neuen Instrumenten (Casio). Abgespaltet von der Vorgruppe hat sich "Omo" Schäumer, der nun solo sein Glück mit der neuen Musik sucht.

Zum Schluß einige Bands, die nicht ohne weiteres in Kategorien zu fassen sind: Piet Kröte`s Peep Show mit ihrem witzigen Rock`n Roll Theater, die Bimbo Band mit einer Mischung aus Jazz, Punk und Rock, die Just for Fun Band mit Swing und Klamauk, die Gruppen Yukatan und Abu Simbel, die in etwa den Stil des Orchestral-Rocks der Frühsiebziger wiederbeleben.

Ein aktueller Nachtrag, oder die Schau muß weitergehen.....

Tja, sein Bier muß man im Bunker mittlerweile ohne Live- Musik schlürfen; im "Meistertrunk " dagegen wurde das Programm - leider mit geringer Publikumsresonanz - in Quantität und Qualität ausgebaut.

Die Musikinitiative Wanne - Eickel e.V. kann auf zwei weitere Erfolge verweisen; im Bunker an der Westfalenstraße in Röhlinghausen stehen nun endlich Proberäume zur Verfügung und die Kassette "Die Russen kommen" mit 7 Wanner Bands ist auf dem Markt. ein Indiz für die Bedeutung der Musikinitiative, aber was wäre das alles ohne die Bewegung in der "Szene" selbst? Denn der Boden ist fruchtbarer denn je, nicht Perfektion sondern Spielfreude ist angesagt und neue Gruppen schießen wie Pilze aus dem Boden; Bernd "Omo" Schäumer versucht es nun mit "Fieber", "Faik City" mit einer Mischung aus deutschen und türkischen Musikern. "Holzweg", "Frustschutz", "Grave Digger", "California", "Vorsicht Falle", "Danach", "Die Genetiker", "Silvias Jazz Journal" und die Frauenband "Hitzewelle" beleben die Musikwelt. Und aus manchen Kellern hört man schon wieder neue Geräusche....

Ein Fazit

Die "Musikstadt" Herne erhält ein neues Gewicht nicht nur durch die Vielzahl sondern auch die Qualität ihrer Rock und Jazz Gruppen. Ein erfreulich hohes Niveau der Musik, die Lebendigkeit und das Engagement in der Szene beweisen, daß Eigeninitiative - und darum handelt es sich ja bei all diesen Bands- genau das Element ist, daß eine Musikstadt benötigt; eben nicht die Verordnung von oben. Um dem Streit zwischen U - und E- Musik endgültig den Garaus zu machen, sei Leonard Bernstein zitiert: "Es gibt keine U- und E- Musik, es gibt nur gute und schlechte Musik"; und der Großteil Herner Musik ist nicht der "schlechten" zuzurechnen. Anders: Müßte man sich bei der Bewertung Herner Musik zwischen Sekt oder Selters entscheiden, existiert immer noch eine Alternative: ein gutes Glas Pils.[1] [2]

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Quellen