Beleidigung Anno 1901

Aus Hist. Verein Herne / Wanne-Eickel

Der Generalanzeiger für Dortmund[1] veröffentlichte am 18. Juni 1901 einen Artikel über das Ende des Beleidigungsprozesses in der Herner Oberschicht an. Zustände Anno domini:

"Der Beleidigungsprozess gegen den Stadtverordneten Bösser.
Herne, 17. Juni. 1901.
Die anonyme Briefgeschichte, welche sich gegen den Stadtverordneten Ludwig Bösser von hier richtet und die in unserer Bürgerschaft schon viel Staub aufgewirbelt hat, gelangte heute zum dritten male vor der Essener Strafkammer zur Verhandlung. Bekanntlich hat diese Sache zunächst das Bochumer Landgericht und dann das Reichsgericht beschäftigt. Der Sachverhalt ist nach der Anklage folgender:
Am 21. September 1898 erhielt Herr Bürgermeister Schaefer ein anonymes Schreiben, welches voll des schmutzigsten Inhalts war. Es strotzte von Gemeinheiten niederträgtigster Art und war für den Empfänger höchst beleidigend.
Ähnliche Briefe kamen zu Fastnacht 1899 an die Adresse anderer Bürger und alle ließen auf einen und denselben Absender schließen. Durch den Inhalt der letzteren Schreiben fühlten sich besonders auch die Herren Stadtverordneten Mumme und Klüsener, sowie der Bauunternehmer Hoppe in ihrer Ehre gekränkt. Wer war nun der Verfasser? Herr Bürgermeister Schaefer, wie auch die übrigen Empfänger waren fest davon überzeugt, dass kein anderer als Herr Bösser der Absender sei.
Dieser hatte wiederholt Beschwerden über den Herrn Bürgermeister an die verschiedensten Instanzen, selbst bis an Se. Majestät gerichtet, und zwar bezogen sich die Beschwerden meistens auf die Wahl des Herrn Mumme zum Stadtverordneten. Bösser ist nämlich der Ansicht, dass diese Wahl aus verschiedenen Gründen anfechtbar sei. Er wurde aber in allen Instanzen abgewiesen. Dies Vorgehen rief in den Empfängern der anonymen Briefe die Überzeugung wach, dass Bösser der Urheber sei.
Die Strafkammer in Bochum gelangte auf Grund des Gutachtens der Schreibsachverständigen zu derselben Ansicht und verurteilte Bösser wegen Beleidigung zu 600 Mark Geldstrafe. Gegen dieses Urteil legte der Angeschuldigte, der von Anfang an die Autorschaft mit aller Entschiedenheit bestritt, Revision ein und erzielte damit einen vollen Erfolg. Das Reichsgericht hob das Urteil aus formellen Gründen auf und verwies die Sache zur anderweitigen Feststellung an das Landgericht Essen.
Die Essener Strafkammer beschloss sodann am 18. Mai v. J. die Verhandlung zu vertagen und Herrn Gerichtschemiker Dr. Look in Düsseldorf zu beauftragen weitere Ermittlungen zur Feststellung der Handschrift anzustellen.
Am 12. Dezember v. J. fand dann neuer Termin statt, welcher einen unerwarteten Ausgang nahm. Auf Grund des ausführlichen Gutachtens des Herrn Kreisphysikus Dr. Racine=Essen beschloss der Gerichtshof, den Angeklagten Bösser einer Irrenanstalt zur Beobachtung zu überweisen.
Diese Beobachtung ist inzwischen in der Irrenanstalt zu Grafenberg erfolgt; Bösser hat dort vier Wochen geweilt. Das Ergebnis dieser irrenärztlichen Beobachtung wurde heute von den Sachverständigen in ausführlicher Weise dargelegt.
Außer dieser anonymen Briefgeschichte kam auch die vom Reichsgericht zurückgewiesene Strafsache wegen Beleidigung des Amtsrichters Saracin und des Landgerichtsdirektors Lörbrocks und mehrerer Beisitzer der Bochumer Strafkammer zur Verhandlung.
Auf diese Fälle wurde zuerst eingegangen; sie spielen seit dem Jahre 1895. Bösser war wegen des Kanalisationsanschlusses mit der Stadt in Differenzen geraten; die Folge war eine zweimalige Pfändung. Er erhob bei der Regierung Beschwerde, die ihn auf den Rechtsweg verwies. In diesem Verfahren hatte sich das Amtsgericht zu Herne mit der Sache zu befassen. Bösser wurde mit seiner Klage abgewiesen und in dem Urteil wurde das Verhalten Bössers als „chikanös“ und„arglistig“ bezeichnet. Hierüber fühlte sich der Angeklagte beleidigt. Er richtete deshalb lange Beschwerdebriefe an den Landgerichtspräsidenten zu Bochum und an den Oberlandesgerichtspräsidenten zu Hamm, dieser um Schutz anrief. Bösser wählte aber in seinen Beschwerden gegen Herrn Saracin solch schwerwiegende Ausdrücke, dass dieser gegen ihn Strafantrag wegen Beleidigung stellte. Diesetwegen verurteilte ihn die Bochumer Strafkammer zu 30 Mark Geldstrafe. Dieses Urteil ist rechtskräftig geworden und Bösser hat die Strafe bezahlt. Als ihm dann die Kostenrechnung präsentiert wurde, erwachte in ihm wieder das Gefühl des Geschädigten. In höchst beleidigenden Ausdrücken bemerkte er in einem an den Justizminister gerichteten Schreiben, ihm scheine es, als ob Herr Saracin nur deshalb gegen ihn Strafantrag gestellt habe, um ihm die Zeugengebühren aus der Tasche zu jagen: derselbe habe für seine Anwesenheit in Bochum 14.08 Mark Zeugengebühren bekommen. Auch die Mitglieder der Bochumer Strafkammer griff er an und sprach von der Ungerechtigkeit des Land= und Amtsgerichts usw. Zu diesen Beleidigungen gesellte sich noch eine weitere, die sich Bösser durch eine Beschwerde über den Herrn Bürgermeister Schaefer, welche er an den Oberpräsidenten der Provinz Westfalen richtete, schuldig machte. Die Strafkammer zu Bochum verurteilte Bösser wegen Beleidigung in 4 Fällen zu 500 M. Geldstrafe. Das Reichsgericht hob dieses Urteil auf und verwies die Sache ebenfalls an das Landgericht zu Essen. Der Vorsitzende, Herr Landgerichtsdirektor Kolligs, ging auf die Vorgeschichte des Prozesses an der Hand der Akten eingehend ein, um das Verbalten des Angeschuldigten bei den einzelnen Vorfällen skizzieren zu können.
Der Angeklagte Bösser behauptet wieder mit Nachdruck, ihm sei Umrecht geschehen. Die Verfasserschaft der beleidigenden Eingaben leugnete er in keiner Weise ab. Nach seiner Vernehmung wurde zuerst Herr Kreisarzt Dr. Racine vernommen, um sich über den Geisteszustand des Angeschuldigten zu äußern. Der Herr Sachverständige wiederholte im Großen und Ganzen sein früheres Gutachten und führte aus:

Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass sich der Geisteszustand des Angeklagten mindestens als krankhaft bezeichnen lässt. Der Angeklagte hat an einer ursprünglichen Beeinträchtigungsidee gelitten, aus der sich dann allmählich der sogenannte Querulantenwahn entwickelt hat. Dieser Querulantenwahn lässt das Vorhandensein eines gewissen Schwachsinns vermuten. Der Angeklagte glaubte, jeder, und wer es auch sein möge, welcher sich nicht zu seiner Sache bekennt, erkläre sich gegen ihn und wolle ihn schädigen; er ist eben der festen Überzeugung: Dir wird Unrecht getan! Das beweist die Vorgeschichte all dieser Beleidigungsprozesse, die, anfangs ganz unbedeutend, immer weitere Kreise gezogen haben Nach der kleinen Beleidigung des Amtsrichters Saracin folgte die Beleidigung des Bürgermeisters Schäfer und der Stadtverordneten, und da er wieder glaubt, ihm sei Unrecht geschehen, greift er schließlich das ganze Bochumer Landgericht an. Ein gesundes Hirn ließ ein solches Vorgehen nicht zu; ein Mensch mit normalem Verstande würde doch einmal zu der Ansicht kommen, dass er vielleicht doch zu weit gegangen sei oder aber einsehen, dass in einer Sache, die für ihn verloren, durch fortgesetzte Angriffe nichts zu erreichen sei. Bei dem Angeklagten komme dieser Gedanke nicht; er hält sich am Schreiben, gleichwie, ob er damit weiter beleidigt oder nicht. Ich halte aus allen diesen Gründen den Angeklagten für dringend verdächtig, dass er an Wahnvorstellungen leidet, die sein gesundes Denken ausschließen.
Herr Staatsanwalt Brandenburg: Ist der Zustand des Angeklagten nach Ihrer Auffassung ein solcher, dass er als gemeingefährlich bezeichnet werden muss?
Herr Kreisarzt Dr. Racine: Nein gemeingefährlich ist der Angeklagte nicht, wohl könnte die Bezeichnung: gemeinbelästigend zutreffen.
Es folgt sodann das Gutachten des Oberarztes der Provinzialirrenanstalt zu Grafenberge. Herr Dr. Brill bemerkte, dass Bösser vom 10. Januar bis zum 9. Februar d. J. behufs Beobachtung seines Geisteszustandes in der Grafenberger Anstalt geweilt habe. Er habe während dieser Zeit nicht den Eindruck gewinnen können, dass Bösser von Wahnvorstellungen befallen sei: sein Geist sei vielmehr gesund, und es könne höchstens eine geistige Beschränkung vorliegen. Für diese Annahme spreche folgendes: Bösser habe sich aus einfachen Verhältnissen emporgearbeitet, bekleide das Amt eines Stadtverordneten, sei Mitglied des Kirchenvorstandes, Vorsitzender des Evangelischen Arbeitervereins usw. und glaube nun, eine Rolle spielen zu dürfen. Dass er sich über jede Kleinigkeit aufrege und sich sofort hinsetze, um eine geharnischte Eingabe loszulassen, spräche für ein beschränktes Urteilsvermögen. Der Herr Gutachter fasste sich dahin zusammen, dass wohl eine geistige Beschränktheit, aber keine geistige Krankheit vorliege, welche die freie Willensbestimmung ausschließe.

Vorsitzender: Kann man annehmen, dass der Angeklagte bei der damaligen Abfassung der Schriftstücke nicht im Besitze seiner Zurechnungsfähigkeit war?
Dr. Brill: Diese Frage kann ich nicht bejahen. Auf eine weitere Frage bemerkt der Herr Sachverständiger noch, dass er bei Bösser, das direkte Gegenteil von Querulantenwahn für vorhanden erachte.
Vorsitzender: Herr Dr. Racine, haben Sie vielleicht nach den Ausführungen des Herrn Dr. Brill an Ihrem Gutachten etwas zu ändern?
Herr Dr. Racine: Nein, ich bleibe bei meiner Auffassung.
Herr Staatsanwalt Brandenburg beantragte auf Grund des Gutachtens des Herrn Dr. Racine die Freisprechung des Angeklagten. Bei der verschiedenartigen Meinung der Sachverständigen liege mindestens ein Non liquet vor.
Herr Rechtsanwalt Dr. Niemeyer bat, sich dem Gutachten des Herrn Dr. Brill anzuschließen und den Angeklagten aus rechtlichen Gründen freizusprechen und nicht, weil man an seiner Zurechnungsfähigkeit zweifle.
Nach kurzer Beratung verkündete der Gerichtshof das Urteil. Es lautete dahin, dass der Angeklagte freizusprechen und die Kosten des Verfahrens der Staatskasse aufzuerlegen seien. Das Gericht halte auf Grund des Gutachtens der Herren Sachverständigen die Möglichkeit oder sogar die hohe Wahrscheinlichkeit für vorliegend, dass der Angeklagte an Querulantenwahn leide, der seine freie Willensbestimmung ausschließe.

Nunmehr kam die anonyme Briefgeschichte zur Verhandlung. Während der Verlesung der Briefe wurde die Öffentlichkeit ausgeschlossen. Von den anwesenden Zeugen wurden nur die Herren Bürgermeister Schaefer, Stadtverordneter Mumme und Verleger Schuhmacher vernommen.
Der Schreibsachverständige Kanzleirat Hirsch und Chemiker Dr. Look aus Düsseldorf ließen sich alsdann über die von ihnen angestellten Schriftvergleiche aus. Bösser stellt bekanntlich entschieden in Abrede, die inkriminierten Briefe geschrieben zu haben. Er bemerkte heute, er habe stets mit offenem Visier gekämpft und würde daher auch diese Briefe mit seinem Namen unterzeichnet haben, wenn er sie geschrieben hätte.
Herr Kanzleirat Hirsch führt aus, dass gar keinen Zweifel an der Autorschaft Bössers obwalten könne; nach seiner Ansicht habe kein anderer, als Bösser die Briefe geschrieben. Ein Fälscher könne die Schrift so täuschend ähnlich nicht nachahmen.
Diesen Standpunkt vertrat auch Herr Dr. Look, welcher seine Feststellungen auf Grund des photographischen Verfahrens getroffen hat. Einzelne charakteristische Buchstaben in den Briefen glichen in geradezu auffallender Weise der Bösserschen Schrift. Ein Zweifel an der Verfasserschaft sei nach seiner Meinung absolut ausgeschlossen. Herr Staatsanwalt Brandenburg stellte wiederum die Freisprechung in Antrag und zwar aus denselben Gründen wie vorhin. Er bitte aber, in dem Urteil festzulegen, dass Bösser die schmutzigen Briefe geschrieben.
Herr Rechtsanwalt Dr. Walach II hielt immerhin die Möglichkeit für vorhanden, dass ein anderer die Briefe geschrieben. Der Herr Vorsitzende habe selbst bemerkt, dass die Wissenschaft des Schriftvergleichs noch immer auf schwachen Füßen stehe. Er bitte daher, den Angeklagten aus diesem Grunde freizusprechen; eventuell schließe er sich dem Antrage des Staatsanwalts an.
Das Gericht sprach den Angeklagten frei, weil er wegen seines geistigen Zustandes nicht zur Verantwortung gezogen werden könne. Dass der Angeklagte die Briefe geschrieben, halte der Gerichtshof nach den übereinstimmenden Gutachten der Sachverständigen für unumstößlich feststehend. Der Angeklagte habe aber aus den erwähnten Gründen nicht für sein Thun verantwortlich gemacht werden können.

Damit schloss die Verhandlung."

Ende? Nicht bei Bösser

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Quellen