Wer war Bauer Berahtwin? (Wand-Seyer 1989)

Aus Hist. Verein Herne / Wanne-Eickel

Von Dr. Gabriele Wand-Seyer

Wer war Bauer Berhtwin? -

Herne im frühen Mittelalter


Es war nicht gerade der Klang von Pauken und Trompeten, der Herne bei seinem ersten Auftritt auf der Bühne der Geschichte begleitete. Was man da hörte, war eher ein leises Kratzen, das sich dem aufmerksam Lauschenden alsbald als das Schreibgeräusch einer Feder auf einem Blatt Pergament offenbarte — einer Feder, geführt von der Hand eines Mönchs in der Schreibstube der ehrwürdigen Benediktinerabtei zu Werden an der Ruhr, irgendwann in den Jahren zwischen 880 und 884. Das Schriftstück, das der Mönch anfertigte, umfaßte bei seiner Vollendung schließlich 40 Blätter Pergament, die später in sechs Lagen in Hirschleder zu einem Buch gebunden wurden. Sein Inhalt: eine nüchterne Aufzählung von Einkünften und Besitzungen des Klosters, die zum Gebrauch der klösterlichen Wirtschaftsführung vorgesehen war.

Dieser in die Forschung unter der Bezeichnung „Urbar A" eingegangenen Liste verdankt Herne seine erste schriftliche Erwähnung. Auf Blatt 33 liest man nach der Auflösung der kanzleiüblichen Abkürzungen unten in der letzten Zeile (Abb. 1):

Abbildung 1: Blatt 33 des Urbars A der Abtei Werden mit der Nennung von „haranni".
"In villa haranni berahtwini demanso pleno XXXVI modios ordei ..."

Für Weiteres reichte dann der Platz auf dieser Seite nicht mehr, und so geht die Eintragung auf Blatt 34 weiter:

"... octo denarios beriscilling Il farine modios et mansionem."

Übersetzt bedeutet dies, daß Berahtwin, in „haranni" auf einer Vollhufe ansässig, 36 Scheffel Gerste, acht Denare Heerschilling und zwei Scheffel Mehl nach Werden abzugeben und darüber hinaus für Beherbergung zu sorgen habe.
Diese Eintragung verwöhnt den Leser nicht gerade mit einem Übermaß an Informationen — nicht zur Ortschaft „haranni" und schon gar nicht zu Berahtwin, dem ersten schriftlich erwähnten Einwohner Hernes. Die Kargheit der Aussage mittelalterlicher Quellen ist nur wenig dazu angetan, die genannten Orte und Personen lebendig werden zu lassen.
Und dennoch ist es gar nicht so schwierig, nach „haranni" zu gelangen. Wir wählen am besten jenen schlammigen Pfad, der uns längere Zeit durch einen Wald führt. Endlich, weit vor uns, zeigt helles Sonnenlicht das Ende des Weges an. Am Waldrand verharren wir eine Weile. Unser Blick schweift über Ackerflächen, trifft auf lehmverputzte Holzhäuser mit Strohdächern, die, umgeben von kleinen Gärten, inmitten der Felder stehen — am Horizont wieder Wald, nur Wald. Auf einem Feld nehmen wir eine Bewegung wahr: einen Mann im knielangen, braunen Wollkittel, die wollenen Kniestrümpfe mit Bändern kreuzweise gebunden, die Füße in leichten Lederschuhen versunken im schweren Boden eines Ackers, über den er soeben, wahrlich im Schweiße seines Angesichtes, einen von einem Paar Ochsen gezogenen Pflug führt.
So — oder ähnlich — können wir uns Berahtwin und das „haranni" des Werdener Urbars vorstellen: eine kleine Siedlung mit einer uns unbekannten Anzahl bäuerlicher Niederlassungen, in der Berahtwin eine Hufe Land bearbeitet. Das Werdener Urbar gibt keinerlei Auskunft über die genaue Lage von „haranni". Die Übersetzung dieses altdeutschen Namens lautet „Dorf an einer Anhöhe"; „haranni" lag demnach wohl nicht in der sumpfigen Emscherniederung, sondern etwas weiter südlich auf den fruchtbaren Lößböden, die sich über die heutige Stadtgrenze hinaus bis weit nach Bochum hinein erstrecken: Die Lage der ersten, dem heiligen Dionysius geweihten Herner Kirche, die sich nur wenige Meter südlich der heutigen Kreuzkirche befand, vermittelt den besten Anhaltspunkt für die Lage dieser frühmittelalterlichen Siedlung „haranni".
Grund und Boden solcher Ansiedlungen waren im frühen Mittelalter unter Grundherren aufgeteilt, deren Namen uns für den Bereich der Stadt Herne in dieser frühen Zeit mit Ausnahme desjenigen des Klosters Werden jedoch nicht überliefert worden sind. Unklar bleibt auch, auf welche Weise — durch Ankauf, private Stiftung eines unbekannten ansässigen Grundherrn oder durch Übertragung aus Königshand — die von Berahtwin bewirtschaftete Hufe Land in „haranni" in den klösterlichen Besitz gelangte.
Die Mönchsgemeinschaft bearbeitete den zu ihrer wirtschaftlichen Absicherung vorhandenen Landbesitz nicht selbst. Nach einem als „Grundherrschaft" bezeichneten Wirtschafts- und Sozialsystem taten dies vielmehr die vom Grundherrn abhängigen Bauern. Wie das Werdener Urbar zeigt, mußten sie dem Kloster festgesetzte Abgaben liefern, konnten aber einen Teil der erwirtschafteten Erträge für den Eigenbedarf zurückhalten. Eine Hufe, wie Berahtwin sie zu bearbeiten hatte, umfaßte ein etwa 14 Hektar großes Stück Land mit Haus und Garten. Berahtwin hat seine Felder damals möglicherweise auf eine Weise bearbeitet, die im hohen Mittelalter unter der Bezeichnung „Dreifelderwirtschaft" weit verbreitet war: Um den Boden nicht durch ständigen Feldfruchtanbau zu erschöpfen, blieb abwechselnd ein Drittel der Ländereien brach, ein weiteres Drittel wurde mit Sommer-, das letzte Drittel mit Wintergetreide bebaut. So hatte Berahtwin in jedem Jahr nur etwa 9 1/2, Hektar Land unter Bearbeitung. Diese Fläche brachte ihm — vorausgesetzt, es gab keine Mißernten oder Kriege — einen Ertrag von durchschnittlich 114 Scheffeln Getreide, nach unseren heutigen Maßen etwa die gleiche Menge an Doppelzentnern. Ein Drittel, also 38 Scheffel, waren an das Kloster Werden abzuliefern, ein weiteres Drittel benötigte er für die neue Aussaat, und ein Drittel blieb ihm zum Eigen-bedarf, eine Menge Getreide, die z. B. einer siebenköpfigen Familie für die Dauer eines Jahres das tägliche Brot und — auch damals schon ein beliebtes Getränk — das Bier sicherte. Rechnete man Gartenerträge und Wild-früchte, Milchprodukte und das allerdings selten gegessene Fleisch dazu, war Berahtwin und seiner Familie ein halbwegs erträgliches Auskommen gesichert.
Neben den 36 Scheffeln Gerste und den zwei Scheffeln Mehl hatte Berahtwin acht Denare Heerschilling an das Kloster zu zahlen. Das sind zwölf Gramm Silber, die von denjenigen zu entrichten waren, die nicht zum Heeresdienst verpflichtet wurden. Sie zahlten diese acht Denare als Ablösesumme, die das Kloster, das Leistungen für das Heerwesen übernehmen mußte, im Kriegsfalle einsetzte. Berahtwin zog diese acht Denare allerdings nicht aus seinem Sparstrumpf. Da Geldwirtschaft nur in ganz beschränktem Maße betrieben wurde, war Bargeld knapp. Acht Denare waren der Gegenwert beispielsweise für ein gut gemästetes Schwein, das Berahtwin erst einmal füttern mußte, ehe er den vom Kloster geforderten Betrag beim Verkauf des Tieres erzielen konnte.
Schließlich hatte Berahtwin eine Beherbergungspflicht, der er immer dann nachzukommen hatte, wenn Dienstträger des Klosters unterwegs waren und für die Nacht eine Unterkunft und Beköstigung benötigten. Die Belastung Berahtwins konnte unter Umständen ein größeres Ausmaß annehmen, wenn er nicht nur eine Einzelperson, sondern eine größere Reisegruppe unterzubringen und zu versorgen hatte. Hinter dieser eher belanglos erscheinenden Verpflichtung verbargen sich also durchaus organisatorische und vor allem wirtschaftliche Unwägbarkeiten.
Mit der Gastungspflicht endet die Eintragung der Leistungen, die Berahtwin dem Kloster Werden gegenüber erbringen mußte. Trotz der Informationen, die wir dem Werdener Urbar über Berahtwins Verpflichtungen entnehmen können, bleibt uns Berahtwin als Person eher verschlossen. Das Urbar stellt ihn lediglich als einen von vielen, dem Nutzen des Klosters dienenden Wirtschaftsfaktoren dar. Was man dem Urbar nicht entnehmen kann, ist die konkrete, alltägliche Belastung, die Berahtwin zu tragen hatte, um die Abgaben für das Kloster, die benötigte Menge Saatgetreide und das für den Unterhalt der Familie Notwendige zu erwirtschaften. Bei der Bearbeitung der klösterlichen Güter war er außerordentlicher körperlicher Beanspruchung ausgesetzt. Mit Ausnahme des Hakenpfluges, der in der Wirkung wenig effektiv, in der Handhabung hingegen um so anstrengender war, gab es keine die Arbeit erleichternden Hilfsmittel. Alle übrige Feldarbeit war „Handarbeit": die Aussaat, die Entfernung der Un-kräuter, das Abschneiden der reifen Ähren mit der Sichel. Gleiches galt für die Weiterverarbeitung der Ernte, wenn das Getreide gedro-schen und gemahlen werden und das Stroh für die Tiere und die Bettstatt der Menschen an die vorgesehenen Lagerungsplätze gebracht werden mußte. Weitere Arbeit gab es bei der Versorgung des Viehs, der Pflege von Obst- und Gemüsegärten und beim Sammeln von Wildfrüchten.
Neben der Feldarbeit war es das Hauswerk — wohl hauptsächlich eine Domäne der Frauen und Mädchen —, das den weitaus größten Teil der Zeit beanspruchte. Hierzu gehörte die Zubereitung der täglichen Mahlzeiten ebenso wie das Brotbacken und das Bierbrauen, die Butter- und Käseherstellung und die Konservierung von Gemüse- und Fleischvorräten für den Winter. Dazu gehörte aber auch das Spinnen von Flachs und Wolle, das Weben von Stoffen und die Weiterverarbeitung zu Kleidung und zu den erforderlichen Haustextilien.
Mit dieser Beschreibung der bäuerlichen Arbeit läßt sich nur ein unvollkommener Eindruck von der Arbeit vermitteln, die auf den Menschen lastete. Streng eingebunden in den Rhythmus des bäuerlichen Arbeitsjahres, kannten sie keine freie Zeit. Es mag nur der Winter gewesen sein, der es den Menschen erlaubte, ihre alltäglichen Arbeiten etwas geruhsamer anzugehen. Durch die harte körperliche Beanspruchung alterten sie früh und erreichten — der kümmerliche Stand der Medi-zin sowie eine hohe Kindbett- und Kindersterblichkeit eingerechnet — mit etwa 36 Jahren statistisch gesehen nur die Hälfte der Lebenszeit, die wir gegenwärtig für uns erwarten können.
Das System der Grundherrschaft, das dem Grundherrn Verfügungsgewalt über und Gewinn aus dem Landbesitz beließ, den abhängigen Bauern hingegen die Last der Arbeit und bestenfalls eine halbwegs auskömmliche Lebensgrundlage brachte, erfuhr neben der wirtschaftlichen Bindung und Abhängigkeit der Hörigen an ihre Grundherren eine weitere Sicherung. Diese leitete sich aus den Rechten ab, mit denen ein Grundherr in ganz private Lebensbereiche der von ihm abhängigen Menschen eingriff. Er konnte sie beispielsweise verkaufen, wobei er willkürlich auch Familien auseinanderreißen konnte; er besaß das Recht zu körperlicher Züchtigung; ohne die Erlaubnis des Grundherrn durften die Menschen weder ihr Land verlassen noch heiraten. In einem solchen für uns heute kaum vorstellbaren System der völligen persönlichen Abhängigkeit lebte also Berahtwin. Freilich offenbart sich auch eine positive Seite dieses Gefüges: Gerade in der völligen Einbin-dung in die „familia" des Klosters Werden fand Berahtwin sein Auskommen und die Gewißheit, sollten ihn die Unwägbarkeiten des Lebens heimsuchen, nicht für immer im Elend zu versinken.
Rund zwanzig Jahre später treffen wir Berahtwins Namen ein weiteres Mal in einer Abgabeliste des Werdener Klosters an, die alle einem Verwalter namens Odgrim unterstellten Höfe aufzählt. Danach allerdings finden wir nichts mehr über ihn, und sein Schicksal verliert sich im dunkeln.
Über „haranni" steht in diesem Teil des Abgabeverzeichnisses nichts. Wir finden es erst um 1150/60 im „Großen Privilegienbuch" wieder, das Werdener Besitzungen und Abgabepflichtige im heutigen Herner Stadtgebiet nennt. Da ist „haranni" aber schon zu „hernen" geworden und hat sich von der Ansiedlung des frühen Mittelalters zum Mittelpunkt für jenes kleine Fleckchen Erde gemausert, das später das Kirchspiel Herne sein würde. [1]

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Quellen

Wand-Seyer 1989, Mit freundlicher Genehmigung.
  1. Dr. Gabriele Wand-Seyer, Geschichte machen auch die kleinen Leut´...; 1989 S. 13-16