Ripp (1980) 5
QUELLENARBEIT
ehem.
Pädagogische Hochschule Berlin ‚ Historisches Seminar
H E R N E - DIE ENTSTEHUNG EINER RUHRGEBIETSSTADT
Der Einfluss von Bergbau und Industrie auf die Entwicklung der Stadt Herne - anhand einer Festschrift zur Einweihung des Rathauses 1912
von Winfried Ripp
Die Schrift wurde in einer alteingesessenen bekannten Herner Druckerei hergestellt.
Die Fakten in dieser "Geschichte von Herne" sind in Form einer Leistungsbilanz der Stadtverwaltung, der Gemeindevertretung und der Wirtschaft zusammengestellt. Die städtischen Eigenbetriebe und die Herner Wirtschaftsunternehmen kommen in Selbstdarstellungen und in Form von Anzeigen zu Wort und haben dadurch wahrscheinlich wesentlich zur Finanzierung der Festschrift beigetragen.
Es werden alle für das städtische Leben wichtigen Fakten aufgezählt, die aus der Sicht eines Stadtoberhauptes im Sinne der effektiven Nutzbarmachung der Kommune für die Förderung der Industrie- und Wirtschaftsentwicklung und 'zum Wohle der Bürger' relevant waren.
Seine Sichtweise ist die der Besitzenden und Herrschenden. Auch wenn er seine politische Position betont zurückstellt, verrät die Betonung z.B. der "vaterländischen Gesinnung" in den Abschnitten über "das Kriegerdenkmal", "das Kaiserdenkmal", "Vaterländische Gedenkzeiten", die im Kapitel "Gemeindeveranstaltungen und Einrichtungen" (s. 92-106) am Anfang stehen, seine politische Gesinnung. Sieburg bezeichnet ihn als "sehr deutschbewussten Patrioten", "Gesinnungsmilitarist" und „Kaisertreuen Monarchisten". [1] Erst nach den kaiserlich militaristischen Einrichtungen werden wichtige Gemeindeinstitutionen wie die Sparkasse, das Versicherungsamt, Markte, Stadtreinigung, Be- und Entwässerung, Friedhöfe, Grünanlagen, Straßenbeleuchtung etc. aufgeführt.
Die Prioritäten der aufgeführten Einrichtungen sind aus den biographischen Daten des Autors und. den Zeitumständen erklärbar.
Die Aktivitäten und das Vorhandensein politischer Parteien und. Vereinigungen, sowie Gewerkschaften etc, werden in der Schrift nicht erwähnt.
Missstände werden zwar teilweise offen ausgesprochen, aber nicht sozialkritisch betrachtet. Ihre Ursachen werden meist in der Kurzsichtigkeit einiger Gemeindevertreter und der Weigerung der Finanzierung oder Genehmigung verschiedener Projekte durch den preußischen Staat oder die westfälische Provinz gesehen. Bei dieser Kritik wird eine selbstbewusste Haltung gegenüber übergeordneten Behörden und dem Staate deutlich. In einer Anmerkung zum Abschnitt "Das Königliche Katasteramt" (S.43) demonstriert Schaefer die Möglichkeit, z.B. für die Stadt belastende Abgaben an den Staat durch vereintes Vorgehen aller Städte aus der Welt zu schaffen.[2] Er ist im damaligen Deutschen Reich für seine Initiative zur Umverteilung der Schullasten auf den Staat bekannt geworden. [3] Die Bürger der Stadt mussten allein für die Schullasten aufkommen. In einer jungen Industriestadt von der Struktur Hernes waren viele der Einwohner überwiegend jüngere Arbeiter, die wenig oder keine Steuern zahlten, aber viele Kinder hatten. Die Steuereinnahmen standen also in keiner Relation zu den Schullasten der. Stadt, die sich in einer Aufbauphase und in einem Wachstumsprozess befand, der hohe finanzielle Mittel notwendig machte. Schaefers Initiative schlossen sich viele Industriestädte des Ruhrgebietes und des übrigen Reiches an, da sie mit den gleichen Schwierigkeiten zu kämpfen hatten.
Auch wenn der Autor sich in diesem Fall für die Belange der weniger bemittelten Burger seiner Stadt indirekt einsetzt, fehlt eine Kritik an den Zustanden, die für die große Mehrheit der Einwohner teilweise armselige Lebensbedingungen zur Folge hatte.
Sie werden nur durch verschiedene Wohlfahrtseinrichtungen, deren Träger die Stadt, die Kirchen und die Industrie -insbesondere der Bergbau- sind, gemildert. Schaefer widmet diesen Einrichtungen einen breiten Raum. (S.54-73) Hier wird aber nur ein System der Mildtätigkeit dargestellt, nie eine Hilfe zur Selbsthilfe oder ein Infrage stellen der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse, die das Arbeiterelend hervorgebracht haben.
Trotzdem kann man sagen, dass Schaefer ein Mann war, der versuchte, die durch die industrielle Entwicklung entstandenen Probleme und Notwendigkeiten anzugehen und zukunftsweisende Lösungsansätze zu finden. Viele seiner Kollegen in anderen Städten blieben in der damaligen Zeit an der Vergangenheit orientierten Vorstellungen verhaftet, Das erschwerte eine moderne Entwicklung zum Wohle der Bürger ihrer Städte.
Sieburg bezeichnet Herne "als Gemeinwesen zweifellos durch Schäfer 'gemacht'". [4] Hierbei standen die Notwendigkeiten und den Geist der Industrieentwicklung des wilhelminischen Zeitalters eindeutig im Vordergrund. "Alles mutet bei diesem Werk der Stadtwerdung Hernes rationalisiert an, vor allem die städtebauliche Planung, mit ihrer bis zum Exzess rechtwinkligen Straßenführung." [5]
Schaefer betont an vielen Stellen[6], dass er seine Vorstellungen entweder gegen starken Widerstand der Bauern und Kleinhandwerker in der Gemeindevertretung durchsetzen musste oder dass die Verabschiedung wichtiger Projekte (z.B. Kanalisationsbau) verzögert wurde.
Die 'überwiegend bilanzmaßige Darstellung des städtischen Lebens wird hin und wieder durch Anekdoten und Beispiele (oft in Form von Anmerkungen) aufgelockert. [7] Die Position des Bürgermeisters bzw. Oberbürgermeisters und der Charakter der kommunalen Selbstverwaltung veränderten sich in allen von der industriellen Entwicklung erfassten Städten in der Zeit von 1870-1910 einschneidend. Das gilt auch für Herne und die Person Schaefer.
Die Spitzenpositionen der Gemeinde wurden nicht mehr von ehrenamtlich tätigen Bürgern eingenommen, sondern gingen mehr und mehr auf Juristen und Verwaltungsfachleute über. Schaefer hatte im Militär und in seiner (allerdings nur kurzen) vorherigen Verwaltungslaufbahn die nötigen Erfahrungen gesammelt. Die Herner Honoratioren holten sich ihn in die Stadt, weil er unabhängiger, weitblickender und kompetenter als ein alteingesessener Bürger die Geschicke der Gemeinde zu leiten versprach. [8]
Um die Jahrhundertwende zeichnete sich ein Übergang der Ordnungsverwaltung zur städtischen Leistungsverwaltung ab. Durch das Wachstum der Zahl der neuen Aufgaben einer kommunalen Verwaltung waren aber auch Juristen und Verwaltungsfachleute überfordert, besonders bei Fragen städtebaulicher Art. Hier mussten entgegen den politischen Leitvorstellungen des Liberalismus jener-Zeit Planungs— und Verfügungsrechte erworben werden.
Durch die unvollkommene Repräsentation der Bevölkerung infolge des Dreiklassenwahlrechts fiel dem Bürgermeister eine Art überparteiliche Fachpolitikerfunktion zu, die Schaefer in der gesamten Schrift zu dokumentieren versucht. [9] Wenn er auch immer diese Position einzunehmen vorgibt, habe ich doch an mehreren Punkten weiter unten nachzuweisen versucht, dass er im Wesentlichen die Interessen von Industrie und Bürgertum vertritt. Auch das unterscheidet ihn nicht von seinen Kollegen der damaligen Zeit.
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- ↑ ebenda
- ↑ "Wenn Gemeinden Sitz von Königlichen Behörden werden wollen, müssen sie nach älterem Gebrauch Geldopfer bringen." Anmerkung: "Ein Abkommen sämtlicher Gemeinden unter sich, bei Gründung Königlicher Behörden Geldopfer nicht mehr zu bringen, würden diesen Gebrauch abschaffen."
- ↑ Reulecke, Jürgen: Von der Dorfschule zum Schulsystem, S. 247-271.
- ↑ Sieburg, H.0. ‚ a.a.O., S.150
- ↑ ebanda
- ↑ besonders in den Abschnitten "Bevolkerung", "Wirtschaftliche Verhältnisse" und "Verkehrswesen" (S.16-45)
- ↑ S. 16,17,18,19,20,24,25,26,27,32 und. 43
- ↑ Schaefer,H. ‚ a.a.0. ‚ S. 2
- ↑ Hoffmann,W. ‚ Oberbürgermeister und städtische Exposion im späten 19. Jahrhundert. Referat in der 7. Sektion, Bericht der 28. Versammlung deutscher Historiker