Eine ungewöhnliche Begegnung

Aus Hist. Verein Herne / Wanne-Eickel
"Als sie Deutschland verlassen musste, war sie ungefähr so alt wie ich heute." Michelle Schnarre und Liesel Spencer, die 1938 als Sechzehnjährige aus Wanne-Eickel fliehen musste.

Wanne-Eickel, New Jersey und zurück

„Es war einer der schlimmsten Tage meines Lebens", erinnert sich Liesel Spencer, die als Liesel Kaufmann 1923 in Röhlinghausen geboren wurde, an den 10. November 1938, den Morgen nach der Reichspogromnacht.[Anm. 1] Ahnungslos über das, was in der Nacht zuvor geschehen war, fuhr das fünfzehnjährige Mädchen mit dem Zug zu ihrer Lehrstelle nach Essen. In der Innenstadt erschreckten sie die qualmenden Reste der Synagoge. Gegen Mittag beorderte sie ein Telefonanruf ihrer Mutter zurück nach Röhlinghausen. „Als ich vom Bahnhof kam, sah ich vor unserem Haus eine Menschenmenge. Alle schrien ,Verbrennt die Juden‘, ,tötet die Juden‘. Ich hatte Angst, mich überhaupt zu nähern.“

Ihr Vater, Arthur Kaufmann, war am Morgen wie alle anderen jüdischen Männer verhaftet und ins KZ Sachsenhausen[Anm. 2] deportiert worden. Innerlich und äußerlich zerstört kehrte er drei Wochen später zurück. Um wenigstens die Kinder zu schützen, meldeten die Kaufmanns Liesel und ihren Bruder Werner für einen Kindertransport nach England an. Der Abschied wurde für Liesel Spencer bis heute zu einer schmerzhaften Erinnerung: „Mein Vater brachte mich zum Bahnhof. Wir dachten, der Abschied wäre nur für ein paar Monate. Aber wir haben unsere Eltern nie wieder gesehen.“ Im Januar 1942 wurden Julie und Arthur Kaufmann mit vielen anderen Juden aus Wanne-Eickel und Herne in das Ghetto Riga[Anm. 3] deportiert und schließlich 1944 im KZ Stutthof[Anm. 4] ermordet.

Sommer 2008. Eine Reisegruppe von Schülern der Erich-Fried-Gesamtschule landet am John F. Kennedy-Flughafen in New York. Mit dem Zug geht es weiter nach Matawan, New Jersey, wo Liesel Spencer sie erwartet. Die vier Schüler und zwei Lehrerinnen sind für zehn Tage Gäste in ihrem Haus. Kennengelernt haben sie sich ein Jahr zuvor. Die Herner hatten eine Gedenktafel in Erinnerung an die Geschichte der Familie Kaufmann gestaltet. Auf Einladung der Stadt Herne weilte Liesel Spencer zu diesem Anlass in ihrem Geburtsort.

Matawan im Sommer. Eine verschlafene amerikanische Vorstadt. Liesel Spencer hat ihre beiden Kühlschränke für die deutschen Gäste mit Lebensmitteln voll gepfropft. Ob sie früher jemals über die Möglichkeit einer solchen Begegnung nachgedacht hätte? „Das war unvorstellbar“, winkt sie ab. „Als der Krieg zu Ende war, habe ich jeden Deutschen, und alles was mit Deutschland zu tun hatte, gehasst. Das Land hatte mir zu viel genommen: meine Eltern, meine Tanten und Onkel, Cousins und Cousinen. Die meisten meiner deutschen Dokumente habe ich verbrannt. Ich stand neben dem Feuer und sah, wie meine Vergangenheit zu Asche wurde.“

Erinnerungen an Wanne-Eickel: Werner und Liesel Kaufmann (3.v.li.) vor der alten Jüdischen Volksschule in der Langekampstraße, ca. 1936

Für die jungen Herner ist diese Erinnerung spürbar, als Respekt, nicht als Barriere. In der Wohnung ihrer Gastgeberin sammeln sich Bilder aus ihrer Geburtsstadt, eine Handzeichnung der Wanne-Eickeler Synagoge, eine Menora und Fotos aus Israel. Im Garten des Hauses wird diskutiert. „Ich habe mich jahrelang schuldig gefühlt, meine Eltern verlassen zu haben“, erzählt Liesel Spencer mit bewegter Stimme. „Ich konnte darüber nicht sprechen und jede Nacht quälten mich Alpträume. Oft sah ich mich selbst in einem Konzentrationslager." Die jungen Herner sind über dieses Bekenntnis überrascht. „Eigentlich war sie das Opfer, und trotzdem plagte sie sich mit den Schuldgefühlen einer Überlebenden“, stellt Michele Schnarre fest. Geschichte ist eben auch Lebensgeschichte und manchmal verdichtet sich die Zeitgeschichte eindrucksvoll in einer Biografie.

Im Gespräch der Generationen wird die Shoah nicht verdrängt, sondern in das Verhältnis einbezogen. Auch wenn es Frühmorgens manchmal eher darum ging, ob „die Kinder“ nun auch „genug“ gefrühstückt hatten. Liesel Spencer muss in Erinnerung an ihre jungen deutschen Freunde lächeln. „Die Zeit mit ihnen war für mich wichtig. Ich kann mich heute ohne Hass gegen Deutschland an meine Eltern erinnern, denn ich weiß, es gibt dort mittlerweile Menschen, die ganz anders sind und auch voller Abscheu an den Nationalsozialismus denken.“

Wieder zurück in Herne denkt Michele Schnarre über die Eindrücke ihrer Reise nach. „Ich fühle mich nicht für das schuldig, was in der NS-Zeit passierte. Aber ich fühle mich verantwortlich dafür, dass es nicht vergessen wird und sich nichts Ähnliches wiederholt“, sagt sie und fügt nach einer kurzen Pause hinzu: „Es war seltsam, Liesel in der Küche hantieren zu sehen, wo sie Abendessen für uns vorbereitete, und gleichzeitig darüber nachzudenken, was sie selbst erlebt hat. Als sie Deutschland verlassen musste, war sie ungefähr so alt wie ich heute.“ [1]


Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Stadt Herne

Anmerkungen

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Quellen

Erinnerungsorte - Shoah-Denkmal - Zum Gedenken an die Opfer der Shoah aus Herne und Wanne-Eickel - Eine Dokumentation von Ralf Piorr im Auftrag der Stadt Herne, Herausgeber: Stadt Herne, 2010

  1. Pressebüro der Stadt Herne 2010, in: Erinnerungsorte - Shoah-Denkmal, S. 42 u. 43