Hiberniaschule
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Die Hiberniaschule ist die erste Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen.
Erinnerung
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Während in der üblichen industriellen Ausbildung die Lehrlinge oft wochenlang an einem Werkstück feilen, sägen, bohren und polieren, um es dann hinterher wegzuwerfen, wird in der Hibernia-Ausbildung von den Azubis nur das hergestellt, was auch tatsächlich irgendwo gebraucht wird. Also nicht nur ein theoretischer Bedarf, es muss ein ganz konkreter Verwendungszweck vorliegen.
Was für manch kuriose Situation bei den Prüfungen sorgte, die anfangs noch extern abgenommen wurden: Hier sollten die Hibernia-Lehrlinge Prüfungsstücke anfertigen, die ansonsten keinen weiteren Zweck hatten. So etwas kannten sie nicht – und so bedurfte es mitunter sehr viel guten Zuredens, damit die Prüflinge überhaupt bereit waren, sich an die Arbeit zu machen. |
Wolfgang Berke
Als das staatliche Schulsystem noch gar keine Gesamtschulen kannte, gab es schon eine in Wanne-Eickel. Allerdings eine private, und die hat eine ungewöhnliche Geschichte.
Gegründet wurde sie nicht von idealistischen Pädagogen auf der grünen didaktischen Wiese. Entstanden ist sie auch nicht durch eine Initiative aufgeklärter Eltern, sondern durch das nicht alltägliche Engagement eines Industriellen: Reinhold Boerner, Direktor des Stickstoffwerks der Bergwerksgesellschaft Hibernia AG. 1950 bildete die Lehrwerkstatt der Hibernia-Chemie an der Holsterhauser Straße 70 Lehrlinge aus. Und die sollten nach Boerners Vorstellung mehr lernen als „nur“ das Handwerk eines Schlossers, Mechanikers, Drehers oder Elektrikers. Neben der beruflichen Qualifikation sollte auch deren theoretische und künstlerische Ausbildung gefördert werden, und das sogar während der Arbeits-/Ausbildungszeit.
Boerners Mitstreiter in Sachen ganzheitlicher Ausbildung und Förderung wurde Dr. Klaus Fintelmann, der eigentlich gar kein Pädagoge sondern Jurist (!) war. Er gab den Lehrlingen künstlerischen und theoretischen Unterricht, mit dem Ziel, sie im eigenständigen Denken und in ihrer Kreativität zu fördern. Das klang zunächst mal nicht sehr umwerfend, das machten andere Schulen schließlich auch. Bei Lehrlingen in einem industriellen Ausbildungsgang war das aber schon ziemlich revolutionär, denn Denken, Eigenständigkeit und Fantasie waren im Produktionsprozess weniger gefragt. Hier galt es eher, genormte Prozesse exakt auszuführen und eine technische Perfektion zu entwickeln.
Da es den Lehrlingen aber auch am praktischen Rüstzeug, also an einfachen handwerklichen Fähigkeiten, sowie an Ausdauer mangelte, verwarf Fintelmann bald den begleitenden Unterricht und richtete mit Reinhold Boerner eine vorgelagerte Stufe ein. Anderthalb Jahre lang erhielten die jungen Leute handwerklichen, künstlerischen und theoretischen Unterricht, maßvoll dosiert, bevor die eigentliche, spezifische Berufsausbildung begann. Das Experiment funktionierte. Die Auszubildenden waren am Ende ihrer Lehre genauso fit wie andere (oft sogar noch ein wenig fitter), hatten aber einen wesentlich behutsameren Einstieg in die Arbeitswelt hinter sich. 1956 war aus der Lehrwerkstatt die Bildungsstätte Hibernia geworden, mit den „Lernorten“ Klassenzimmer, Werkstatt und Betrieb.
Die Öffentlichkeit war zunächst skeptisch, nicht nur Fachleute und Behörden, sondern auch die Eltern. Aber da ihre Kinder Spaß am Unterricht und an der Arbeit hatten, galt das Experiment schon nach wenigen Jahren als gelungen. Womit die Wanne-Eickeler als erste in Deutschland bewiesen hatten, dass sich Rudolf Steiners pädagogische Prinzipien nicht nur in Schulen umsetzen ließen, sondern auch in einem Industriebetrieb realisiert werden konnten. Und Direktor Boerner hatte eine völlig neuartige Berufsausbildung auf seinem Werksgelände – obwohl er eigentlich „nur“ eine Ergänzung der betrieblichen Ausbildung geplant hatte. Aber die Steinersche Berufsausbildung war ja auch für die Industrie recht nützlich: Schon in den 1950ern waren die Zeiten vorbei, in denen junge Leute ein Handwerk lernten, das sie lebenslang ausüben. Immer mehr gefragt war der flexible Industriearbeiter, der mit ausgeprägter beruflicher Lernfähigkeit auf alle neuen Anforderungen reagieren kann.
Schon 1957 wurde die Bildungsstätte Hibernia als Modellschule im Bereich „integrierte Berufsfach- und Berufsaufbauschule“ vom Kultusministerium NRW anerkannt. Jetzt hieß sie „Berufsgrundschule Hibernia“ und konnte die Abschlussprüfungen selbst vornehmen. Allerdings durfte sie jetzt auch nicht mehr nur einem einzigen Industriebetrieb dienen. Also wurde sie aus dem Stickstoffwerk herausgenommen und in eine freie Trägerschaft überführt. Dem dazu gegründeten Verein gehörten automatisch auch alle Schülereltern an, die natürlich genauso automatisch Beiträge entrichten mussten. Schulgeld durch die Hintertür. Das war zwar dem Einkommen entsprechend gestaffelt – aber immerhin. Lehrstellen gab es damals woanders kostenlos und reichlich. Trotzdem konnte sich die Hiberniaschule über mangelndes Interesse auch in Arbeiterhaushalten nicht beklagen.
Um wie viel besser ließe sich das pädagogische Konzept umsetzen, wenn man noch früher beginnen würde? Am besten im Kindergarten? Und wenn man die jungen Leute nicht nur zu einem Beruf, sondern auch zur Studienreife bringen würde? Die Idee der integrierten Gesamtschule war geboren und von 1962 bis 1964 wurde kräftig an ihr gewerkelt. Sie entstand als erste selbstverwaltete Schule weit und breit an der Holsterhauser Straße, dort, wo sie auch heute noch steht, jetzt aber viel größer und viel selbstverständlicher. In den 1960ern wurde sie skeptisch beäugt von anderen Pädagogen, die traditionelle Klassenstrukturen und Notengebung für unerlässlich hielten. Und neidisch gemustert von Schülern eben dieser traditionellen Anstalten, die ein Schülerleben ohne Versetzungsprobleme und Leistungsdruck als mittleres Paradies einschätzten.
Der Weg der Hiberniaschule in die pädagogische Selbstverständlichkeit war aber ein dornenreicher. Seit 1964 war die Hiberniaschule eine vollintegrierte Gesamtschule. Aber nur in der Wirklichkeit. Auf dem Papier blieb sie ein Bündel von pädagogischen Einzelmaßnahmen mit einem ebensolchen Bündel von Einzelgenehmigungen. Deren Abiturienten z.B. noch nicht mal im eigenen Haus geprüft werden durften. 1970 gab es dann endlich die lang ersehnte Anerkennung: als „Gesamtschule eigener Art“. Und weil das Genehmigungsverfahren sechs Jahre lang dauerte, führt heute die erst 1969 gegründete Gesamtschule Gelsenkirchen den Titel „älteste Gesamtschule Nordrhein-Westfalens“. Zu Unrecht, denn die erste steht an der Holsterhauser Straße in Wanne-Eickel.
Auch nach ihrer Anerkennung blieb die Hiberniaschule bis heute eine Privatschule. Folglich gibt es vom Land auch keine Vollfinanzierung. Bis heute lebt die Hiberniaschule zu etwa einem Fünftel durch die Beiträge der Eltern und durch das Engagement vieler Förderer.
Fast 1.000 Kinder und Jugendliche besuchen heute die Hiberniaschule. Immer noch ohne Zensuren (zumindest bis zur 10. Klasse), immer noch ohne Sitzenbleiben – aber mit allen Abschlussmöglichkeiten, die auch andere Schulen bieten. Lediglich für das Abitur müssen die Hiberniaschüler länger ran als ihre Kollegen an den staatlichen Schulen: Nach der 12 folgen noch zwei Jahre „Hibernia-Kolleg“. Dafür haben die Hiberniaschüler aber neben ihrem Schulabschluss noch ganz „nebenbei“ eine abgeschlossene Berufsausbildung in der Tasche. Auch nicht schlecht!
Der Text wurde für das Wiki redaktionell bearbeitet. Er stammt aus dem Jahr 2005
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Quellen
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