Großer Bergarbeiterstreik von 1905: „Hungert, aber kriecht nicht!“

Aus Hist. Verein Herne / Wanne-Eickel

In Herne und Wanne-Eickel stehen alle Zechen still

Es ging auch um Arbeitszeit, Löhne und starke Organisation. Wenn auch heute längst kein Förderrad mehr Kohle zu Tage fördert hat dennoch der heimische Bergbau im Stadtbild aber auch in der Geschichte der Arbeiterbewegung und der Mentalität der hier lebenden Menschen seine Spuren und Narben hinterlassen. So war der industrielle Aufschwung der Gründerjahre immer wieder von sozialen Unruhen und harten Streikaktionen der Bergarbeiter in Herne und Wanne-Eickel geprägt. Die damalige politische Situation und die Kampfbedingungen jener Zeit sind völlig andere wie die heutigen und dennoch sind gewisse historische Parallelen und aktuelle Bezüge nicht von der Hand zu weisen.

Die Unzufriedenheit der Ruhrbergarbeiter,die sich bereits im September 1868 und im Juni 1872 in Streiks entladen hatte ging zurück auf den kapitalistischen Ausbau des Ruhrbergbaus durch die preußischen Bergrechtsreformen von 1865. Mit der Übernahme der Bergbaubetriebe durch die Grubenbesitzer wurde der vormals priviligierte Bergknappe zum Lohnarbeiter, der vom Unternehmer rücksichtslos ausgebeutet wurde. Ab 1865 verschlechterten sich die Arbeitsbedingungen im Ruhrbergbau: Schon bei geringen Vergehen wie z.B. Schimpfen gegen Zecheneinrichtungen oder zu großem Lärm beim Einfahren drohten dem Bergmann harte Strafen in Form von Lohnabzügen. Hinzu kam der Ärger der Bergleute über zu geringen Einfluss in Knappschaftsangelegenheiten. [1]

1868 wurde der Ausstand durch eine Ablehnung einer Beschwerde von Bergleuten über Lohnkürzungen und Arbeitszeitverlängerungen auf bis zu 11 Stunden täglich ausgelöst. Erste Bemühungen zur Schaffung einer Bergarbeitergewerkschaft infolge der Arbeitskampferfahrungen scheitern noch an der vorherrschenden Uneinigkeit und besonders des Widerstandes der katholischen Knappenvereine. [2]

1872 streikten rund 20.000 Bergleute von 40 Ruhrzechen gegen die miserablen Arbeitsbedingungen und um 25 Prozent Lohnerhöhung sowie den Achtstundentag zu erzwingen. [3]

Im Ergebnis des Streiks wurde im Oktober 1872 in Essen ein 3000 Mitglieder zählender Bergarbeiterverband gegründet. Aufgrund staatlicher Repression und noch mangelnder Unterstützung durch die Bergleute löst sich der Verband aber bereits 1873 wieder auf. [4]

Der große Streik von 1889 und die Gründung der Bergarbeitergewerkschaft ausgehend von einer spontanen Arbeitsniederlegung jüngerer Bergleute auf der Zeche Präsident in Bochum-Hamme am 25. April 1889 weitete sich die bis dahin größte Streikbewegung einige Tage später auch auf Herne, Wanne-Eickel und andere Ruhrgebietsstätte aus. Am 10. Mai waren 70.000 und am 14. Mai bereits 90.000 von insgesamt 104.000 Ruhrgebiets-Bergleuten im Ausstand. [5] 90 Prozent der deutschen Bergarbeiter standen im Streik. Nach 11 Jahren Sozialistengesetz formieren sich die Arbeiter wieder als Streikmacht gegen das Kartell von Unternehmerwillkür und staatlicher Unterdrückung. Vereinzelt tauchen rote Fahnen auf. Die verschlechterten Arbeitsbedingungen auf den Schachtanlagen und sinkende Reallöhne waren ausschlaggebende Auslöser der Streikbewegung.

Gefordert wurde u.a. eine Lohnerhöhung von 15 %, die 8-Stundenschicht unter Tage und Überstundenbezahlung. Gegen die Bergleute wurde ein massives Militär- und Polizeiaufgebot eingesetzt. Bei mehreren – häufig von der Obrigkeit provozierten - Zusammenstößen wurden zahlreiche Bergleute, aber auch unbeteiligte Passanten schwer verletzt oder sogar getötet. [6]

Der erste Tote der Streikbewegung : Ein Herner Bergmann

Die Situation verschärfte sich, als es am 6. Mai den ersten Toten gibt: In Herne wird ein Bergmann von einem Polizeibeamten erschossen. Am 10. Mai werden auf der Zeche Brackel auf das Feuerkommando eines Offiziers drei Menschen erschossen und sechs Menschen - darunter ein 18 Monate altes Kind - schwer verletzt. Die Bilanz des Einsatzes von insgesamt 11 Bataillonen Infanterie und 8 Eskadrons Kavallerie: mindestens 15 Tote und 20 Verwundete. [7]

Der Befehl von Kaiser Wilhelm II., schärfstens gegen die Streikenden vorzugehen, führte zu einer breiten Solidarisierung unter den Ruhrbergleuten. [8] Bis dahin hatten die immer wieder aufflammenden Arbeitskämpfe eher spontanen uneinheitlichen Charakter. Unter den Bergleuten wuchs die Erkenntnis, das das Fehlen einer schlagkräftigen, die Kräfte bündelnden Organisation ein Haupthemmnis in der Interessenvertretung gegenüber den organisierten Zechenherren und dem Staatsapparat darstellte. Über die Jahre und manch bittere Niederlage war das Bewustsein gereift dass eine Organisation und eine einheitliche Führung nötig waren, um ein geschlossenes Vorgehen zu erreichen. Das Verhalten der Unternehmer und die weitgehend nicht erfüllten Forderungen der Bergleute ließen zudem einen erneuten Streik wahrscheinlich werden, für den sie besser gerüstet sein wollten; und so erhielten die seit längerem andauernden Bemühungen zur Schaffung einer Gewerkschaft durch den 1889‘er Streik besonderen Auftrieb.

Am 18. August 1889 gründeten schließlich 200 Delegierte von 66 Zechen und 44 Knappenvereinen in (Dortmund-) Dorstfeld den Verband zur Wahrung und Förderung der bergmännischen Interessen im Rheinland und Westfalen (künftig „Alter Verband “ genannt). [9]

Wohl auch als Reaktion auf die Formierung der Bergarbeitergewerkschaft vollzog der Arbeitgeberverband (Verein für die bergbaulichen Interessen) einen grundsätzlichen Wandel in der sozialpolitischen Einstellung des Arbeitgeberverbandes [10] Er koordinierte fortan eine „aggressive Politik gegen Streiks, Arbeiter und Gewerkschaften.“ Der offenkundige Ausdruck der neuen Politik war der sogenannte Ausstandssicherungs-Verband, mit dem eine einheitliche Haltung der Zechen bei Arbeitsniederlegungen gesichert werden sollte. Diese Regelung machte es nahezu unmöglich, gegen einzelne Zechen oder Unternehmen zu streiken, da diese bei begrenzten Ausständen von den anderen Betrieben unterstützt wurden – und zwar nur unter der Bedingung, dass sie den Streikenden nicht nachgaben. [11]

Die unberechenbaren Herner Bergarbeiter

Im Jahre 1899 wurde die infolge des expandierenden Bergbaus schnell wachsenden Städte Herne und Wanne-Eickel zum Zentrum einer weiteren, aber eher örtlich begrenzten Streikbewegung. Am 23. Juni 1899 traten zunächst 69 Schlepper und Pferdejungen überwiegend polnischer Herkunft der Zeche „von der Heydt“ in den Streik. Innerhalb weniger Tage griffen Ausstand und Unruhen auf die Schachtanlagen Shamrock, Friedrich der Große, Julia, Mont-Cenis, Constantin IV, Unser Fritz und Pluto über. [12]

Unmittelbarer Anlass war eine Kürzung der Nettolöhne durch die Erhöhung der Knappschaftsbeiträge von 1,50 Mark monatlich auf 80 Pfennig wöchentlich. Gefordert wurde nunmehr eine Lohnerhöhung von 25 – 30 % um damit die erfolgte Lohnkürzung auszugleichen. In Stellungnahmen der Behörden und in der Presse war die Rede von der „Unberechenbarkeit und Gewalttätigkeit der in der Herner Gegend ansässigen Arbeiter“, die offensichtlich nur mit härtesten Maßnahmen >zur Räson< gebracht werden konnten. [13] Aber gerade die Drangsalierung durch Polizei und Militär, Versammlungsverbote und behördliche Schikanen führten zur Eskalation der Ereignisse.

Bilanz: 4 Tote Herner Bergleute und 20 Schwerverletzte Wieder ging die Polizei mit brutaler Gewalt gegen die Streikenden vor. Am 27. Juni feuerten Polizisten mit Gewehren in eine Ansammlung von streikenden Herner Bergleuten. Das Ergebnis der blutigen Auseinandersetzungen sind 4 Tote und 20 Schwerverletzte. [14] Auch in anderen Fällen wurde unverhältnis-mäßig hart und willkürlich eingegriffen. Nach etwa einer Woche hatte die Polizei die Situation - verstärkt durch 2.000 Fußsoldaten und 150 Berittene Militärs – auf ihre Weise „bereinigt“. ( Leben vor Ort /S. 203) 192 Bergleute wurden gemaßregelt, eine große Anzahl zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt, so der Herner Bergmann Ludkowski zu 8 Monaten Gefängnis, weil er Arbeitswillige in der Waschkaue zur Arbeitsniederlegung überreden wollte. (vgl. Berg- und Hüttenarbeiterzeitung vom 09.12.1899)

1905: Vom großen Streik zum Generalstreik Als die Leitung der Stinnes-Zeche Bruchstraße in Bochum-Langendreer sich weigert, eine am 22. Dezember 1904 verfügte halbstündige Schichtzeitverlängerung zurückzunehmen tritt die gesamte Morgenschicht in den Streik. Obwohl die Führer des „Alten Verbandes“, des christlichen Gewerkvereins, der Hirsch-Dunkerschen und der polnischen Gewerkschaft ihre Mitglieder am 8. Januar 1905 in verschiedenen Aufrufen von einem allgemeinen Ausstand abzuhalten versuchen, weitete sich der Streik in wenigen Tagen auf das gesamte Ruhrgebiet aus. [15]

Die Aufrufe der Gewerkschaftsführungen blieben ungehört. Am 9. Januar streikten 12.000 Bergleute, am 11. Januar 42.000 und einen Tag später bereits 64.000. Am 16. Januar war die Streikfront bereits auf 100.000 angeschwollen und nahm mit jedem Tag weiter zu. Die Hoffnung der Gewerkschaftsspitzen der Streik werde lokal begrenzt bleiben hatte sich trotz des „ungeheuren Bremsens der Führer, des Bremsens bis zur Selbstentmannung nicht erfüllt “, so der Essener Bergmann Becher auf der Delegiertenkonferenz am 12. Januar 1905. ( Bericht der Delegiertenkonferenz vom 12.01.1905 /Beitrag des Delegierten Becher aus Essen/ Leben vor Ort / S. 212)

Shamrock-Kumpel: So geht es nicht weiter! Die Kumpel wollten sich nicht länger abhalten lassen und warten, zuviel hatte sich bei ihnen auf gestaut. Ein Umstand auf den auch der Führer des Herner Bergarbeiterverbandes Graf auf der gleichen Delegiertenkonferenz hinwies. Er erklärte, er werde es nicht fertig bringen seine Kollegen vom Streik abzuhalten: „Man würde mich von der Bühne herunterbringen. Ich habe es versucht, die Kameraden an die Arbeit heranzuziehen, ich habe ihnen gesagt, ihr bekommt keinen Pfennig Unterstützung, wenn ihr streikt, ganz gleichgültig sind sie darüber hinweggegangen,sie haben einfach gesagt, so geht es nicht weiter.“ [16]

Tags zuvor, am 11. Januar fand im Nußbaumschen Saal in Herne eine Belegschaftsversammlung der Zeche Shamrock 1 / 2 statt. Hier stellte Graf im Verlaufe der Sitzung die Frage: „Wollt Ihr Anfahren oder nicht ?“- „Streik!“ war die Antwort aus der Menge. Graf schloß die Versammlung mit den Worten :„Hungert, aber kriecht nicht!“ [17]

Im Verlaufe der zugespitzten Auseinandersetzung u.a. gegen Arbeitszeitverlängerungen, Lohnkürzungen, erste Zechenschließungen im Ruhrtal, häufige Mißhandlungen durch Vorgesetzte und die willkürliche Nichtanrechnung der Förderleistung (Wagennullen) beteiligten sich annähernd 200.000 Bergleute, d.h. 70 Prozent der gesamten Bergarbeiterschaft an diesem, bis dahin umfassensten Streik im Ruhrbergbau. In Herne und Wanne-Eickel lagen alle Schachtanlagen still.

Die Kumpel der Zeche Königsgrube in Röhlinghausen befanden sich vom 17. Januar bis zum 11. Februar 1905 im Streik. Erstmalig wurden sie dabei von Frauen unterstützt, die sich an Demonstrationen beteiligten oder dabei halfen Arbeitswillige daran zu hindern als Streikbrecher ihren Männern in den Rücken zu fallen. Den Streikenden schlug im gesamten Revier eine außergewöhnliche Welle der Sympathie entgegen. Der Kölner Erzbischof schickte eine Geldspende für die „notleidenden Bergarbeiter-Familien“, und in Recklinghausen bildete sich ein Komitee von hundert Bürgern, das die Streikenden finanziell unterstützte. (Das Revier im größten Streik des Kaiserreiches / WAZ vom 22.01.1980)

Angesichts des geschlossenen Auftretens der Streikenden sowie der nationalen und internationalen Solidarität wagte es die preußische Regierung diesmal nicht, Truppen im Streikgebiet einzusetzen. (Fritz Klein, Deutsche Geschichte, Band 2, S.708 f) Um den Einfluß auf die Mitgliederbasis nicht zu verlieren und eine einheitliche Kampfstrategie zu entwickeln, wählten die Delegierten der vier Bergarbeiterverbände auf einer gemeinsamen Ruhrgebietskonferenz am 12. Januar 1905 in Essen einen ständigen Siebenerausschuß als Streikleitung und formulierten in einem 14-Punkte-Programm ihre Forderungen an den Verband der Zechenbesitzer.

Als der Arbeitgeberverband am 14. Januar die Forderungen der Siebenerkommission u.a. nach 8-stündiger Schichtzeit, einschließlich der Ein- und Ausfahrten, Verbot des Wagennullens, der Festsetzung von Mindestlöhnen, Milderung des betrieblichen Strafsystems und der Errichtung von Arbeiterausschüssen, humane Behandlung und Anerkennung der Gewerkschaften als Verhandlungspartner ablehnt, beschließt eine Revier-Konferenz am 16. Januar 1905 den Generalstreik. (Arbeiterbewegung an Rhein und Ruhr/ Hammer-Verlag 1974/ S. 136)

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Quellen

  1. Harenberg 1987, S. 195
  2. Harenberg 1987, S.149
  3. Bergarbeiter im Klassenkampf 1890-1970 /Verlag Tribüne Berlin 1970
  4. Harenberg 1987, S. 159
  5. Leben vor Ort /Seite 182
  6. Leben vor Ort / S. 183
  7. WAZ v. 24.04.1989/ Die Bilanz des Streiks...
  8. Harenberg 1987, S.195
  9. Leben vor Ort /S. 184
  10. M.Kealy:Kampfstragien,S. 191 / Zitiert nach Leben vor Ort
  11. Leben vor Ort /S.191
  12. Braßel 1991, S.77
  13. Leben vor Ort / S. 204
  14. Harenberg 1987, S. 242
  15. Harenberg 1987, S. 273
  16. Leben vor Ort / S.212 / 213
  17. Sozialdemokratie in Herne Von den Anfängen bis zum Verbot 1933 /S.20