Gründung des ersten Gewerkschaftskartells in Herne

Aus Hist. Verein Herne / Wanne-Eickel
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Wir schreiben das Jahr 1896

Noch 4 Jahre bis zur Jahrhundertwende. Es sind auch im ehemaligen Kirchdorf Herne die Gründerjahre eine Zeit des Aufbruchs. Herne steht dank seiner Steinkohle­vorkommen und dem raschen Ausbau des Schienen­verkehrs­netzes unmittelbar vor der Stadtwerdung, die am 1. April 1897 vollzogen werden soll. Aber bevor dem Amt Herne die Stadtrechte übertragen werden, bahnt sich für die in ersten, schwachen Berufs­verbänden organisierte Arbeiterschaft großes an. Im November 1896 soll erstmals der Zusammen­schluss einzelner, bisher getrennt agierender, Gewerkschafts­zahlstellen zu einem gemein­samen Gewerk­schafts­kartell erfolgen. Der Herner Arbeiter­bewegung wird das Koalitions­recht nicht von außen übertragen. Trotz allgegenwärtiger Repressions­maßnahmen der staat­lichen Obrigkeit nimmt sie sich – immer wieder bedrängt und von Rück­schlägen begleitet - ihr Recht auf den gewerkschaft­lichen Zusammen­schluss.

Als im März 1857 auf dem Hof des Bauern Sengenhoff mit den Abteufarbeiten für den ersten Schacht der Zeche Shamrock begonnen wird, ist der Grundstein für den rasanten Aufstieg des ehemaligen Ackerdorfs Herne gelegt.

Von 1871 bis 1896 erlebt der zunächst ländlich geprägte Raum Herne (Alt-Herne, Baukau und Horsthausen) infolge der Industriea­lisierung einen Sprung in der Bevölkerungs­entwicklung von 5.765 auf 27.876 Einwohner. 14.219 Bewohner sind Ange­hörige der katho­lischen und 13.352 der evange­lischen Kirche. Neben dem protes­tantisch-national­liberalen Lager und dem politischen Katholizismus bildet sich in der Gemeinde ein national-polnisches und ein sozialis­tisches Lager heraus. Das Verhältnis der sehr unter­schiedlichen, politisch-weltan­schaulichen Lager ist konflikt­trächtig.

Schmucklose Kolonien, Schlamm und Dreck

Das Erscheinungsbild der Bergbaustadt – nur die Bahnhofstraße ist gepflastert – wird von schmucklosen Wohn­siedlungen zur Unterbringung der zahlreichen Arbeits­kräfte aus Polen den Ostprovinzen des Deutschen Reiches und aus Westfalen geprägt. Die unbefestigten Straßen, häufig nur Trampel­pfade zwischen Zechen und Kolonie, versinken im Winter in Schlamm und Dreck. Die Wohn­verhält­nisse halten mit dem Zuzug der Arbeits­kräfte nicht Schritt und sind katastrophal. 1894 wohnen 30 Prozent der Bergleute, darunter viele Polen, vielfach als Kostgänger zur Untermiete.

Eisenbahn und Bergbau bringen den Aufstieg

Bereits seit 1836 verkehren Personen­postkutschen von Bochum über Herne nach Recklinghausen. Aber schon wenige Jahre später, im März 1847 ist die Eisenbahn­strecke der Köln-Mindener-Eisenbahn als erste Bahnstrecke Westfalens in Betrieb genommen und künftig halten Züge im neuen Herner Bahnhof. Inzwischen fördern die Schachtanlagen „Von-der-Heydt/Julia“ im Herner Westen (1867), „Friedrich der Große“ in Horsthausen (1870), „Constantin“ im Herner Süden (1895) sowie „Mont-Cenis“ in Sodingen (1875).

Im gleichen Jahr (1875) siedelt sich die Verwaltung der drittgrößten, politisch einflussreichen Bergwerks­gesellschaft des Ruhrgebiets, die „Hibernia“ an. Zahlreiche Betriebe der metall­verarbeitenden Zuliefer­industrie haben sich seit den 1870er Jahren in der aufstrebenden Bergbau­gemeinde niedergelassen.

Das Gruben- und Industriebahnwerk Halstrick (1869), die Dampfkessel­fabrik Berninghaus (1875), die Maschinen­fabrik Baum (1883) und die Eisengießerei Beien (1885).

Eine neue städtische Oberschicht von Kaisers Gnaden

Faksimile des Reichs-Gesetzblattes vom 22.Oktober 1878 [1]

Der Prozess des Wandels vom bäuerlich-ländlichen Gemeinwesen zum industriellen Ballungsraum hat auch seine Auswirkungen auf die kommunale Machtausübung. In Herne - das bis dahin als Diaspora der Sozial­demokratie gilt - gibt inzwischen die städtische Oberschicht aus Bergwerks­direktoren, leitenden Zechenbeamten, Fabrikanten, Bauunternehmern und Kaufleuten den Ton an. Bisherige Amtsversammlungen und der von örtlichen Großbauern dominierte Gemeinderat werden nach 1897 von der nach dem Drei­klassen­wahlrecht gewählten Stadtverordneten­versammlung des städtischen Geldadels abgelöst. Das Stadt­parlament besteht zu zwei Dritteln aus National­liberalen und zu einem Drittel aus Vertretern der Zentrums­partei. Trotz Unterschieden in Einzelfragen ist man sich in monarchistischer Kaisertreue, eiferndem Nationalismus und abgrundtiefem Hass auf die umstürzlerischen Bestrebungen der jungen, aufstrebenden Arbeiter­bewegung aber einig.

Wachsende soziale Spannungen und Klassen­gegensätze entladen sich – vor allem auf den Schachtanlage - in zunächst eher spontanen Streiks und sorgen für eine allmähliche Politisierung der örtlichen Arbeiterschaft. Frühe Organisationsversuche scheitern an konfessionellem Zwist und den unter­schiedlichen Mentalitäten der proletarisierten ehemaligen Land­arbeiter, aber insbesondere an den Unterdrückungs- und Repressions­maßnahmen des preußischen Obrigkeits­staates und seiner lokalen Repräsentanten. Infolge des Sozialisten­gesetzes „gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Socialdemokratie“ von 1878 erfolgt eine Welle von Verhaftungen, Verfolgungen und Verboten.

Die Führer der jungen, deutschen Arbeiterbewegung, die der Verhaftung entgehen können, flüchten sich im benachbarten Ausland ins Exil.

1878: Erste Zahlstelle des Rosenkranzverbandes

Am 21. Oktober 1878 ergreift – noch vor Erlass des Sozialisten­gesetzes - eine Gruppe von sozial­demokratisch und christlich-sozial gesinnten Bergarbeitern erstmals die Initiative zur Bildung einer Zahlstelle des „Verband rheinisch-westfälischer Bergleute“ (Rosenkranz­verband) für Herne.
Da der Vorstand der Herner Zahlstelle der behördlichen Aufforderung, ein Mitglieder­verzeichnis vorzulegen, nicht nachkommt, wird der Verband polizeilich verfolgt und kurze Zeit später zur Einstellung seiner legalen Tätigkeit genötigt.
Alle Versuche zur Gründung gewerkschaftlicher Zentral­verbände im Ruhr­bergbau, letztlich auch der Rosenkranz­verband, schlagen seit 1872 bis zur Ent­stehung des „Alten Verbands“ (1889/90) infolge der Unnach­giebigkeit der Aufsichts­behörden fehl.
Der große Bergbaustreik des Jahres 1889 bringt den Wende­punkt. Über Nieder­lagen und Demüti­gungen hinweg, hat sich das Bewusst­sein der Bergarbeiter verändert.

1889: Der Streik bringt den Wendepunkt

Am 6. Mai 1889 werden alle Herner Schacht­anlagen vom Streik erfasst. Die Einsicht setzt sich durch, dass man nur gemeinsam, im solidarischen Kampf vereint, gegen die Kohlebarone und die staatliche Obrigkeit eine Chance hat. Diese sehen in dem Streik den Aufruhr und werten ihn als sozialis­tischen Umsturz­versuch. Es kommt zu blutigen Zusammen­stößen mit der Polizei und des eilig herbei­gerufenen Militärs. Am Abend des 6. Mai demonstrieren die Streikenden durch die Straßen der Herner Innen­stadt, es kommt zu Rangeleien. Ein 22jähriger Bergmann sinkt, von der Kugel aus einem Polizei­revolver tödlich getrof­fen, zu Boden.

Bergarbeiter schaffen sich ihre Organisationen

Faksimile eines Aufrufs aus dem Jahr 1878 [1]

Die Ausstandsbewegung (von Mitte April bis Anfang Juni) zwischen Ruhr und Emscher erlangt eine solche Wucht und Stärke, dass seine Majestät Kaiser Wilhelm II nicht umhin kommt, am 14. Mai d.J. eine Dele­gation der streikenden Berg­leute in Berlin zu empfangen. Unter den 3 „Kaiser­delegierten“ befindet sich auch Friedrich Bunte, der 7 Jahre später bei der Gründung des ersten Gewerk­schafts­kartells in Herne zugegen ist und das Haupt­referat hält. Nach Beendigung des Streiks werden die Rädels­führer zwar wie gewohnt verfolgt und entlassen, aber der Grundstein für das Entstehen einheitlich handelnder Gewerk­schaften und den Zusammen­schluss der verschiedenen Berufs­verbände, ist auch in unserer Stadt gelegt. Noch 1889 werden Filialen des sozial­demokratischen Bergarbeiter­verbandes (Alter Verband) und des katholischen „Christlichen Gewerkvereins“ in Herne gegründet.

Politisierung durch den Klassenkampf

Vor den Reichstags­wahlen des Jahres 1890 gründen 23 Sozial­demokraten aus dem Amt Herne und 31 aus den Nachbar­gemeinden, den „Demokra­tischen Verein für den Wahl­kreis Bochum“. Dem Vorstand gehören überwiegend Berg­arbeiter an, die durch den Streik und die blutigen Auseinander­setzungen des Vorjahres politisiert wurden. Die anhaltenden Verfolgungs­maßnahmen behindern auch diesen Versuch, den Anliegen der Arbeiter­bewegung nunmehr parteipolitisch Geltung zu verschaffen. Der Verein wird in die Illegalität abgetrieben. Aber nur 5 Jahre später tritt die Herner Sozial­demokratie wieder aus der Illegalität hervor und wird von nun an zu einer dauer­haften, poli­tischen Kraft in unserer Stadt.

Befördert wird diese Entwicklung nicht zuletzt durch die Existenz der Schank­wirtschaft Bomm auf der Bahnhofstraße, die zum Haupt­bezugs­punkt und zur politischen Heim­statt der Herner Gewerk­schaften und Sozial­demokratie wird.

Das erste Gewerkschaftskartell wird gegründet und wieder verboten

Friedrich Bunte [1]

Und so kommt es am 15. November 1896 in einer öffentlichen Versammlung sozial­demokratisch gesinnter Gewerkschafter in der Gastwirtschaft von Adam Bomm zur Gründung eines ersten branchenübergreifenden Gewerkschaftskartells. Vor gut 100 Teilnehmern referiert der Dortmunder Bergarbeiter­führer und „Kaiser­delegierte“ Friedrich Bunte über die Notwendigkeit und Bedeutung der Vereinigung aller Gewerkschaftskartelle und Berufsverbände zu einer einheitlichen Gewerkschaftsorganisation. Der Märkische Sprecher, das Amtliche Kreisblatt des Landkreises Bochum vermerkt über die Gründungs­versammlung: Bunte „legte die Bedeutung des Gewerkschafts­kartells, d.h. der Vereinigung aller Gewerkschaften auseinander und meinte, dass nur auf diese Weise allein eine wirksame Macht dem Großkapital entgegengestellt werden könne.“ Recht plump sei ein „Ausfall“ Buntes „gegen die Person des Fürsten Bismarck“ ausgefallen. Zur Beratung eines Statuts wird ein zwölfköpfiges Gremium gewählt ,das aus je zwei Vertretern der Gewerkschaften der Schneider, Maurer, Zimmerleute, Schreiner, Maler und Bergleute besteht. Zweck des neuen Kartells der Herner Gewerkschaften ist gemäß Statut die einheitliche Regelung aller gewerkschaftlichen Angelegenheiten. Natürlich ist nicht nur diese Versammlung von der Polizei überwacht, sondern das gerade gegründete Kartell sieht sich sofort polizeilichen Schikanen und Verfolgungen ausgesetzt.

1897 wird gegen den Vorsitzenden des Kartells ein Strafverfahren wegen angeblichen Verstoßes gegen das Vereinsgesetz eingeleitet und dem Kartell das Versammlungs­lokal entzogen. Proteste gegen diese Schikanen bleiben ungehört und haben keinen Erfolg. Die gewerkschaftliche Neugründung wird abermals in die Illegalität abgetrieben, aber die Herner Gewerkschafter haben einen langen Atem.

1898: Ein zweiter Anlauf und wieder Verbot

Schon im November 1898 wird das Gewerkschafts­kartell neu gegründet. Am 5. Februar 1899 führt das Kartell eine gut besuchte Versammlung durch. Haupt­tagesordnungs­punkt ist „Die Herner Polizeiverwaltung und die Arbeiter­organisationen.“ Referent ist Ludwig Hostrop, ein 25jähriger, lediger Katholik aus Herne. In der anschließenden Debatte tritt auch der 27jährige Zeitungsbote Gustav Dobrozewski, ein vorbestrafter Protestant aus Baukau hervor. Der verheiratete Vater von vier Kindern gehört zu den polizeilich überwachten Personen in der Stadt und gilt laut Polizeibericht im Raum Herne als sozial­demokratischer Rädelsführer, Agitator und „eifriger Redner“. Mehrere Versammlungsteilnehmer berichten darüber, dass die Herner Polizei den Gewerkschaftern auf alle mögliche Art und Weise Schwierigkeiten bereiten. So würden z.B. Logiswirte beeinflusst, die Miet­verhältnisse zu kündigen und Arbeitgeber würden durch die Polizei gedrängt, leitende Gewerkschaftsfunktionäre zu entlassen. Auch dieses Kartell erfreut sich nicht lange einer legalen Tätigkeit.

1899: Streik auf allen Herner Zechen - 2 tote Arbeiter auf der Bahnhofstraße

Dennoch kommt es im Juni 1899 zu einer weiteren, diesmal nur auf die Herner Zechen beschränkte Streik­bewegung. Die über­regionalen Zeitungen sprechen in ausführlichen Artikeln von den „Krawallen in Herne“. Auslöser ist eine von der Bergwerksdirektion der Zeche „Von der Heydt“ veranlasste Lohnkürzung infolge der Erhöhung der Knappschaftsbeiträge. 69 jugendliche Schlepper, Bremser und Pferde­treiber legen als Reaktion auf diese Willkür­maßnahme am 23. Juni spontan die Arbeit nieder. Eine zwei Tage später anberaumte Bergarbeiterversammlung wird von der örtlichen Polizei „wegen Überfüllung des Tagungslokals“ kurzerhand aufgelöst. Das lassen sich die Bergleute nicht gefallen. Die Empörung nimmt ihren Lauf und es kommt zu heftigen Auseinander­setzungen. Zwei Bataillone Infanterie und eine Eskadron der berüchtigten Münsteraner Kürassiere werden zur Wieder­herstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, d.h. zur Unterdrückung der Streikbewegung beigezogen. Davon unbeeindruckt streiken am 26. Juni 1899 die Belegschaften aller Herner Zechen. Auf der Bahnhofstraße formiert sich ein mächtig anschwellender Demonstrations­zug. An der Spitze marschieren ortsbekannte Gewerkschafter und Sozial­demokraten, überwiegend polnischer Herkunft. Sie tragen sozial­demokratische Abzeichen an ihren abgewetzten Jacken, haben rote Schärpen umgelegt und rote Tücher an die Spazierstöcke gebunden. Wieder kommt es zu blutigen Zusammenstößen zwischen den Streikenden und der überaus brachial vorgehenden Polizei. Bei der legendären „Schlacht auf der Bahnhofstraße“ kommen 2 Demonstranten zu Tode, mehrere Arbeiter bleiben schwerverletzt zurück.

1900: Der dritte Versuch – Gewerkschaften fassen Fuß

In diesem politisch aufgeheizten Klima erfolgt im Jahre 1900 schließlich ein dritter Anlauf zur Neugründung eines örtlichen Gewerkschafts­kartells in einer öffentlichen Versammlung bei Adam Bomm. Die Gewerkschafts­bewegung hat in Herne Fuß gefasst und allen Verfolgungs­maßnahmen getrotzt. Aber der Golgathaweg der Herner Arbeiterbewegung ist noch nicht beendet und hält noch viele schwere, opferreiche Prüfungen bereit … [2]

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Quellen

  1. 1,0 1,1 1,2 Das Bild stammt aus dem Archiv des DGB.
  2. Ein Artikel von Norbert Arndt