Brauchtum
Hochzeitsbrauchtum
Bauernhochzeiten
Bei den Bauernhochzeiten ging es in den Gemeinden unserer jetzigen Stadt hoch her. Noch heute erzählen die älteren Hofbesitzer mit einem Gefühl der Freude von den Hochzeitsgebräuchen, die sie in der Jugend selbst miterlebt haben. War von den Brautleuten der Hochzeitstag festgelegt, so wurde das kirchliche Aufgebot bestellt. Am ersten Sonntage „wann se van de Kanzel gefallen wören“, oder „ wann de Pasto van Wuergen van inf gefürt giät“, fand im Hause der Braut das „Friggerfangen“ statt. Der Bräutigam musste dem jungen Bolke der Nachbarschaft, aus der er sich die Braut holte ein „Kaufgeld“ geben. In witziger Rede und Gegenrede, die in wechselseitiger Fopperei ausklang, hielten die jungen Burschen an der einmal verlangten Summe fest. Der Bräutigam dagegen versuchte, von der Forderung etwas abzuhandeln; aber man wurde bald handelseinig. Es war dieses eine Erinnerung an die Zeit, wo die Braut an den Mann verkauft wurde. Der zweite Sonntag war dazu ausersehen, im Beisein der Braut und des Bräutigams das „Friggerbee“ zu trinken. Mittlerweile war mit dem nächsten Angehörigen die Reihenfolge der Verwandten, Freunde und Nachbarn durchberaten. Ein Übersehnen, wenn auch noch ein so unbeabsichtigtes, führte manchmal zu jahrelanger, bitterer Feindschaft. War endlich der Einladezettel vollständig, dann wurde der Gastbitter bestellt, um die verzeichneten Familien zur Hochzeit einzuladen. Er bekam von den Freundinnen der Braut seinen derben Wanderstab mit bunten Bändern geschmückt und entledigte sich dann an mehreren Tagen mit stolzer Würde seines Auftrages. Als einer der letzten Gastbitter hier in Herne kann wohl Frackmanns Willm von der Wiescherstraße gelten. Er war für diesen Zweck besonders geeignet, wusste seinen Schnaps mit Wohlbehagen zu trinken, und seinen Spruch immer gut zu kloppen
"lck lade Ink ter Hochteyt in,
do gitt et Beier, Wien und Branntewien,
Musikaten söllt nich te wennig sien,
do gitt et en Stück vam Schinken,
do könnt Ji gutt nao drinken,
do gitt et en Stück vam Broen,
do könnt Ji gutt nao gohen,"
do gitt et en Stück van ne Wuorst,
dat ist gut jör de Buorst.
Makt Ink fien,
awer nich to fien,
Brut un Brütigam willt
am fiensten sien. "
"Ich lade euch zur Hochzeit ein,
da gibt es Bier, Wein und Branntwein,
Musikanten sollen nicht zu wenig sein,
da gibt es ein Stück vom Schinken,
da könnt Ihr gut nach trinken,
da gibt es ein Stück vom Braten,
da könnt Ihr gut nach gehen,
da gibt es ein Stück von der Wurst,
das ist gut für die Brust.
Macht Euch fein,
aber nicht zu fein,
Braut und Bräutigam wollen
am feinsten sein."
Wurde zu einer Reishochzeit eingeladen, dann wurde der Vers eingeschoben: „ Wä Ries weel täten, däi draff Wiälk, Boutter un Liäppel nich vergiätten.“ (Wer Reis essen will, darf Milch, Butter und Löffel nicht vergessen.) Mit recht vielem Geschick brachte Frackmanns Willm die richtge Stimmung mit ins Haus, es waren dieses Jahr auch seine „guten Tage“. Neben einer nicht geringen Entlohnung vom Bräutigam setzte es bei den Eingeladenen außer einem Schnaps auch noch ein gutes Trinkgeld ab, das unter scherzhaften Bemerkungen schmunzelnd eingestrichen wurde.
Der Brautwagen
Je näher nun der Hochzeitstag heranrückte, desto lebendiger wurde es im abseits gelegenen Bauernhofe. Einige Tage vor der Hochzeit kam der Brautwagen, beladen mit der Aussteuer der Braut. Die Bauern setzen ihre größte Ehre darin, das alle Möbel aus dem Holze eigener Bäume hergestellt und auf dem Hofe, in der Schür oder im Backhuse von bestellten Schreinern während mehrerer Monate angefertigt wurden. Weiterhin sichtbar prangte an der Spitze das Spinnrad, das Hauptschmuckstück jedes bäuerlichen Brautwagens. Ein Flachsbund, mit bunten Bändern umwunden, war, wenn auch unbewußt, als Opfergabe an die Göttin Holda, die Beschützerin des Flachsbaus, nicht vergessen. Behutsam verpackt und wohlgeborgen in geschnitzten, reichbeschlagenen, eichenen Truhen, ruhte die Fülle des schneeigten Leinens, aus eigenen Flachs an langen Winterabenden von Mutter und Töchtern gesponnen. Hoch empor ragte der Reiserbesen, aus dem ein festgebundener lebender Hahn von hoher Warte aus Wache hielt und manchmal gar keck oder ungebärdig seine Flügel schlug, je nach dem der eingegossene Schnaps ihm seine Sinne verwirrte. Es waren die Sinnbilder der Sauberkeit und Wachsamkeit. Ursprünglich hatten auch diese beiden Gegenstände eine mythische Bedeutung. Der Besen war der Herenbanner und der Rothahn deutete auf den Gott Donar. Er war ja der Gott der Bauern, weil er mit seinem Hammer die Ehe heiligte und die Fruchtbarkeit schenkte. Kühe und Rinder, die als Mitgift vom väterlichen Hofe zugebracht wurden, waren hinter den Wagen gebunden. Eines der Tiere war mit Kränzen und buntem Flitter stattlich herausgeputzt. Auch die Pferde des Brautwagens waren vielfach bekränzt. Die Ehre, den Wagen zu fahren, wurde meistens dem ältesten Knecht zuteil, neben dem die „Fiinemakers“, Schneider und Näherin, Platz genommen. Durch quer über die Straße gespannte Stricke hemmten junge Burschen und Mädchen den Brautwagen im Weiterkommen. Gegen Verabreichung eines Trinkgeldes wurde dann der Weg freigegeben. Die Nachbarschaft stand schon längst bereit, die Sachen abzuladen. So ganz mühelos und ungestraft aber durfte der Bräutigam nicht in den Besitz des neuen Reichtums kommen. Deshalb versteckte man einzelne Teile, am liebsten Bettzubehör, die dann gegen Geld wieder eingelöst werden mußten oder in Form einer Versteigerung in den Besitz des Bräutigams übergehen. Bis zum späten Abend war alles beschäftigt, das neue Heim herzurichten. In der Dunkelheit wurde der leere Brautwagen mit Ketten festgelegt, um auch bei dieser Gelegenheit ein Trinkgeld zu erwischen.
Der Tag vor der Hochzeit
Am Tage vor der Hochzeit, dem „Kuorsdriägersdag“, herrschte ein lebhaftes Kommen und Gehen im Hochzeitshause. Die Eingeladenen, Verwandte und Nachbarn, hatten schon längst, ihre Fleischkammer durchmustert und den besten Schinken ausgesucht, daneben im Geflügelhof die dicksten und fettesten Hühner bestimmt, die als Geschenke auf der Hochtzeitstafel Verwendung finden sollten. Die Pferdejungen wurden beauftragt, die wertvollen Gaben an Ort und Stelle zu besorgen, dazwischen kamen an diesem „Schinkendriägers=Omend“ die Mägde mit ihren Bütten Vollmilch auf dem Kopfe und den Butterwellen im Korbe. Allen wurde ein freundlicher Empfang und gute Bewirtung zuteil. Sobald die Dunkelheit hereingebrochen war, fanden sich die jungen Freunde der Brautleute zum Polterabend ein. Sie warfen Töpfe und Flaschen entzwei, manchmal in solchen Unmengen, daß die Scherben in Karren vom Hofe entfernt werden mussten. Je mehr Scherben, desto mehr Glück. Durch dieses Geräusch und Gepolter wollte man nach einem von dem heidnischen Vorfahren übernommenen Brauche die bösen Hausgeister vertreiben, und unbehelligt von ihnen, sollte das Brautpaar ein zufriedenes, glückliches und tatkräftiges Leben beginnen.
Einholung der Braut
Weil Kutschwagen in früheren Jahren auf den Bauernhöfen zu den Seltenheiten gehörten, so kam die Braut, wenn sie auswärts wohnte, auf einem Pferde in ihr neues Heim geritten. Einer ihrer Brüder saß als Lenker vorn und die Braut hinten auf dem Pferde. Die Nachbarsburschen des Bräutigams rückten schon in der Frühe zu Pferde aus, um die Braut in festlichen Zuge einzuholen, voran die Musikanten. Noch einmal nahm sie Abschied von dem trauten Vaterhause. Anders so manche freudige Jugenderinnerung sie gekettet hielt. Erschien sie in ihrem schwarzen Festtagskleide im Rahmen der großen Einfahrttür, dann setzte die Musik ein. Der sich eingebürgerten Melodie bei diesem musikalischen Begrüßungsakt war folgendes Lied unterlegt:
Wä settet de Bruut de Krone op, Wer setzt der Braut die Krone auf,
Wä sette se ok wiär af, Wer setzt sie wieder ab,
Biär ene fröhlike Stunne, Für eine fröhliche Stunde,
Biär so manigen trurigen Dag, Dag, Dag ! Für so manchen traurigen Tag, Tag, Tag !
War der Zug auf dem Hofe des Bräutigams angekommen, so galoppierten die Reiter nicht selten auf die Tenne und zur Küche wieder hinaus. Als aber bauliche Veränderungen diesen Weg unmöglich machten, umritten sie dreimal das Hofgebäude. Diese feierliche Einführung der Braut erinnerte an einen alten, germanischen Brauch, durch den die junge Frau als ebenbürtiges Glied jetzt in die Familie aufgenommen wurde.
Trauung und Hochzeitsessen
Der eigentliche Trautag verlief ohne äußeres, festliches Gepräge. Die Trauung fand meistens im Hause auf der Tenne statt. Dabei mußte das Brautpaar genau unter der geöffneten Bodenluke Platz nehmen. Die „Diäle“ war für diesen Zweck mit frischem Grün geschmückt. Da, wo das Vieh einen freien Ausblick nach der Dehle hatte, wurden die Gucklöcher mit Brettern vernagelt. Nur die nächsten Verwandten waren an diesem Tage anwesend und wurden mit Kaffee, Kuchen und echtem Bauernstuten bewirtet. Erst am folgenden Tage war der eigentliche Hochzeitsschmaus. Es gehörte nicht zu den Seltenheiten, daß dreihundert und mehr Gäste sich zu der Feier von nah und fern zusammenfanden. Die großen Dehlen in den Bauernhäusern reichten nicht aus, all die Geladenen unterzubringen. Man war aber auch von vornherein darauf eingerichtet, draußen im Freien zu tafeln. Auf dem planierten Hofplatze, mit Vorliebe unter Bäumen oder in einer angrenzenden Wiese, standen die gedeckten Tische. Der reichliche Bestand an Tellern, Gabeln, Löffeln und Messern war in der Nachbarschaft zusammengeliehen oder von den Gästen mitgebracht. An diesem Tage kam alles aufs Wetter an. Um die Göttin Frigg die Spenderin des ehelichen Glückes und Segens, sich gewogen zu machen, fütterte die Braut nach germanischem Brauche fleißig die Katzen, die der Göttin besonders geweiht waren. Regnete es nun am Hochzeitstage, dann hatte die Braut die Katzen nicht lieb. In der sicheren Voraussetzung gutes Wetter zu bekommen, wurden die Hochzeiten ausnahmslos in den Sommermonaten und zwar meistens an einem Donnerstag, gefeiert. Aber wie häufig machte Gott Pluvius einen Strich durch die aufgestellte Rechnung. Dann wurde die Sache fatal! So gut es ging, zog man sich aus der Klemme heraus. Große Strohlagen wurden auf dem Boden ausgebreitet, damit wenigstens während des Essens die Gäste nicht im Dreck und Schmutz zu sitzen brauchten. Auf der Dehle begann ein Galoppessen, um wenigstens vielen nacheinander dort Unterkunft zu bieten. In den Zwischenzeiten drückte man sich, so gut es ging, in den Räumen des Hauses oder in der Nachbarschaft umher. Der fröhlichen und heiteren Stimmung wurde gewaltiger Abbruch getan. Wie ganz anders dagegen sprudelte der Frohsinn, wenn die liebe Sonne lustig vom Himmel lachte. Und wurde erst die dicke, fette Hühnersuppe aufgetragen, dann strahlte des Glückes heller Schein auf allen Gesichtern. Es folgten Schinken und Sauerkraut und weißen Bohnen, Rindfleisch und gedörrten Pflaumen, und ohne dicken Milchreis, das hiesige Nationalgericht, gab es kein Hochzeitsmahl. Der Gastbitter, Frackmanns Willm, waltete in Treue seines Amtes. Auf den sogenannten Reishochzeiten trug er die ganze Verantwortung. Das einzige Gericht der Hauptmahlzeit war von ihm aus Reis, Milch und Butter zu einer wohlschmeckenden Speise zubereitet. Unermüdlich durchschritt er die Stuhlreihen und nötigte zum Essen, riß seine Witze und machte Späße. Die Nachbarmädchen gingen mit einer Tüte voll Zucker und „Kanäile“ in der Hand an den Tischen vorbei, um dort nachzuhelfen, wo „Schmuckmäuler“, statt in die Tiefe zu gehen die süße Oberfläche entrahmt hatten. „Wenn gute Reden sie begleiten, dann fließt die Arbeit munter fort,“ so dachten auch unsere Hochzeitsgäste. Lustige Redensarten flogen herüber und hinüber:
Laiwer den Buuk verrenken, at'm Buur wat schenken.
(Lieber den Bauch verrenken, als dem Bauern was schenken)
Jäten un Drinken hält Saile un Lief anein
(Essen und Trinken hält Seele und Leib zusammen)
Sau as täm got de Backen, säu got iäm ok de Hacken
(Wie die Hacken so die Backen)
Nach dem Hochzeitsmahle, das sich bis spät in den Nachmittag hinzog, lud der Gastbitter mit lauter Stimme die Gäste ein, „ob Nobern de gohn“, um bei diesen Kaffee und Kuchen einzunehmen. In Gruppe verteilten sich die Anwesenden auf die Nachbargehöfte, wo sie freundlich empfanden und reichlich bewirtet wurden. Am Abend begann auf der großen Dehle der Tanz. Man tanzte Walzer, Quadrille, Galopppade und Polka. Der Kapellmeister, Schulte von Horneburg, saß mit seinen Musikanten auf den bühnenähnlichen Verschlag über den Viehtrögen, der auch Fiekel genannt wurde. Während des Tanzes wurde wohl die Braut von den Frauen mit einem altmodischen Gewande und einer Mütze bekleidet und dem Bräutigam vorgestellt mit den Worten: „Nu, wie gefällt Die jetzt Diene Bruut?“ Wahrscheinlich sollte diese Zeremonie dem Bräutigam erinnern an die Liebe und Treue, die er seiner Frau schulde bis ins Alter hinein, wenn sie auch vielleicht „altmodisch“ geworden sei. Erst in den frühen Morgenstunden des nächsten Tages trennte man sich in dem Bewusstsein, durch diese Feier einmal wieder die verwandtschaftlichen und nachbarlichen Beziehungen fester geknüpft zu haben. Aber wie immer und überall fand man am anderen Tage die bekannten Nachzügler, die keine Miene machten, den Festtagszauber abzubrechen. Die reichlichen Reste in Küche und Keller erlaubten es ja, noch einmal einen genußreichen Tag zu verleben, und zum „Strümpe“ verzehren schienen die Zurückgebliebenen besonders gut zu eignen.
Gebehochzeit
Wir dürfen nun nicht mit dem Maßstabe der heutigen Zeit den Vermögensbestand der Bauern in früherer Zeit abschätzen, denn erst die Industrie hat nach und nach den Hofbesitzern zu einem gewissen Wohlstande verholfen. War schon für gewöhnlich das bare Geld sehr rar, so kam der junge Hofbesitzer erst vollends in arge Bedrückung, wenn noch jüngere Geschwister abzufinden waren. Um sich nun auf bequeme Weise einen gewissen Barbestand an Geld zu verschaffen, hielt der Bauer eine Gebehochzeit ab. Im gewissen Sinne waren die Bauernhochzeiten alle Gebehochzeiten, weil Schinken und Butter in solchen Mengen geschenkt wurden, daß das Brautpaar einen großen Teil dieser Sachen verkaufen konnte. Die eigentlichen Gebehochzeiten waren meistens mit der Hochzeit verbunden, konnten aber auch in der Folgezeit auch jahrelang später abgehalten werden. Die Verwandten und Nachbarn gaben nach Belieben eine Summe Geldes, die dann von einem Schreibkundigen, meistens dem Lehrer, in eine Liste namentlich eingetragen wurde. Dieses hatte den Zweck, daß das Hochzeitspaar bei einer in dieser Familie stattfindenden Hochzeitsfeier mit der gleichen Summe dienen konnte. Das eingenommene Geld, das nicht zurückgezahlt zu werden brauchte benutze der Bräutigam zur Abtragung der Schulden, zum Ankauf von Grundstücken oder zum Hausbau. Die Verschwendung bei den Gebehochzeiten hatte von altersher in hiesiger Gegend einen solchen Umfang angenommen, daß die Obrigkeit sich ins Mittel legte, um diesen Unfug zu steuern. So finden wir schon eine Verordnung des großen Kurfürsten aus dem Jahre 1656, die für die Grafschaft Mark bestimmt war. Doch was kümmerten sich unsere Vorfahren um derartige Erlasse und Verordnungen, umso teurer hielten sie an den von ihren Vätern ererbten Gebräuchen fest. Aber immer wieder donnerten die Behörden dazwischen. Nach einer Verordnung aus dem 18. Jahrhundert durften nur Eltern, Brüdern und Schwestern zur Hochzeit geladen werden. Musik und Tanz waren streng untersagt. Die Namen der Geladenen mußten den Behörden schriftlich eingereicht werden. Gendarmen und Polizisten kontrollierten an Hand des Zettels die anwesenden Gäste. War es nicht möglich, die uniformierten selbst in den Strudel des Frohsinns untertauchen zu lassen, dann konnten Hochzeiter und Hochzeitsbitter sich regelmäßig auf eine Geldstrafe gefaßt machen. Noch in den 80er Jahren sind in Herne Gebehochzeiten gefeiert worden, und mancher Alt=Herner hat sein Strafmandat begleichen müssen.
Zitiert aus dem Buch „Heimatbuch der Stadt Herne – Für Schule und Haus“ von Johannes Decker Abschrift von Patricia- und Marcus Schubert
Eine Gebehochzeit
Der Morgen des 3. Juli 1867 war für Bauer Heinrich Wiesche aus Holthausen etwas beschwerlich.
Am Tage zuvor hatte er geheiratet, und nun stand Wiesche - noch leicht benommen von
den gestrigen Festlichkeiten- auf der Deele und schaute sich das Durcheinander an,
das übriggeblieben war. Schließlich wandte er sich um und schloss die Tür zu einer kleinen,
direkt neben der Feuerstelle liegenden Kammer auf. Vor ihm lagen 55 Schinken, Gesamtgewicht
802 und ein halbes Pfund, aus der Zimmereckeblickten ihn drei Schweinsköpfe
an und unter der Decke waren sorgsam 41' Hähne und Hühner aufgehängt. Ganz besonders
zufrieden aber war Heinrich Wiesche mit dem Gewicht der Schatulle auf dem Tisch,
enthielt sie doch genau 454 Taler und 13 Silbergroschen, von denen ihm nach Abzug
aller Kosten für die Hochzeit noch 344 Taler bleiben würden. Zum Glück hatte der Dorfgendarm
von den vielen Geschenken und der Liste nichts gemerkt oder nichts merken wollen.
Aber alle waren sehr vorsichtig gewesen, und die Listehatte er trotz seiner Schlagseite
noch in der vergangenen Nacht im Haferkasten auf der Tenne verschwinden lassen, so
dass das Hauptbeweisstück erst einmal aus dem Verkehr gezogen war.
Was Heinrich Wiesche hier vor den Augen der ungnädigen Obrigkeit verborgen hatte, war
die Liste der Geschenke, die seine junge Frau Alwine Schlingermann und er am gestrigen
Tage von Verwandten und Freunden zur Hochzeit erhalten hatten.
Heinrich Wiesche, der 1935 hochbetagt im Alter von 98 Jahren starb, berichtete, daß er mit seiner
Frau die letzte in Holthausen stattfindende "Gebehochzeit" gefeiert habe, eine Hochzeit noch ganz
nach dem Brauch früherer Zeiten.
Eine solche Hochzeit war stets ein dorfbewegendes Ereignis. Kam einer der beiden zukünftigen
Eheleute gar von auswärts, was nicht selten geschah, so waren gleich zwei Dörfer in festliche
Stimmung versetzt. Selbstverständlich war in der dörflichen Gemeinschaft spätestens seit der
Verlobung eines Brautpaares bekannt, dass bald eine Hochzeit zu feiern war. Die Verlobung, bei der
die Brautleute die Ringe tauschten, wurde jedoch üblicherweise nur im kleinen Familienkreis
gefeiert. Sobald das Brautpaar aber zum ersten Mal in der Kirche aufgeboten worden war,
warfen große Ereignisse ihre Schattenvoraus. Zunächst einmal kaufte die Jugend aus der
Nachbarschaft dem Bräutigam die Braut ab. Geschäftstüchtig trieb man dabei den Preis so
hoch dass der Erlös für alle Beteiligten zu einen gepflegten Umtrunk in der Dorfwirtschaft
reichte.
Zu dieser Zeit war bereits der „Gassenbitter“ (Gästebitter) unterwegs, um alle Gäste zur
Hochzeitsfeier persönlich einzuladen. Man erzählte sich, dass niemand so schön zur Hochzeit bitten
konnte wie Wilm Frackmann:
"lck lade Ink ter Hochteyt in, do gitt et Beier, Wien und Branntewien, Musikaten söllt nich te wennig sien, do gitt et en Stück vam Schinken, do könnt Ji gutt nao drinken, do gitt et en Stück vam Broen, do könnt Ji gutt nao gohen, do gitt et en Stück van ne Wuorst, dat ist gut jör de Buorst. Makt Ink fien, awer nich to fien, Brut un Brütigam willt am fiensten sien. "
"Ich lade euch zur Hochzeit ein, da gibt es Bier, Wein und Branntwein, Musikanten sollen nicht zu wenig sein, da gibt es ein Stück vom Schinken, da könnt Ihr gut nach trinken, da gibt es ein Stück vom Braten, da könnt Ihr gut nach gehen, da gibt es ein Stück von der Wurst, das ist gut für die Brust. Macht Euch fein, aber nicht zu fein, Braut und Bräutigam wollen am feinsten sein."
Bei Wilm Frackmann verband sich die Würde, mit der er sein Amt versah, aufs Glücklichste mit seiner Trinkfestigkeit, denn zum Dank für die von ihm überbrachte Einladung offerierte man ihm bei jeder Familie, die er aufgesucht hatte, ein Gläschen Schnaps, dessen Wirkung Frackmann in bewundernswerter Weise wegsteckte. Am Tage vor der Hochzeit waren die Nachbarn des Brautpaares in vollem Einsatz. Es galt zunächst, den Brautwagen mit der Aussteuer der Braut zu richten. Dies durften nur die älteren, verheirateten Nachbarn vornehmen. Auf diesem Wagen lag alles, was die junge Braut in ihren zukünftigen Haushalt mitnehmen würde: Truhen, gefüllt mit Leinenrollen, Kleider, Leibwäsche und Haustextilien, das Ehebett, Flachshecheln und ein Spinnrad, Kühe und Schweine, die, mit Bändern herausgeputzt, hinter dem Wagen her trotteten – und nicht zu vergessen den Hahn, dem man zwangsweise ein Glas Schnaps verabreicht hatte, damit er, wenn auch bedenklich unsicher auf einem Reisigbesen balancierend, den Zug des Brautwagens mit gehörigem Krähen begleite. Bei der Ankunft am Hause des Bräutigams verschwand dann regelmäßig ein Rad vom Brautwagen, das gegen ein hübsches Sümmchen von den Nachbarn der Braut bei den Nachbarn des Bräutigams wieder ausgelöst werden konnte. Der Vorabend der Hochzeit wurde zum Schmücken der Türen im Hochzeitshause genutzt, zum Herrichten des Brautbettes und, besonders von der Jugend, zum Poltern. Je mehr Lärm, desto lieber und besser für das Brautpaar, denn durch viel Krach ließen sich die vielen bösen Geister verscheuchen, die nach altem Glauben dem Brautpaar hätten gefährlich werden können. Am Hochzeitstag zog das Brautpaar nach der kirchlichen Trauung mit seinen Gästen zum Hochzeitshause zurück - überflüssig zu erwähnen, dass auf diesem Wege Hindernisse aufgebaut waren, deren Beseitigung man nur durch eine Geld Gabe erreichen konnte. Mittag- und Abendessen wurden im Hochzeitshaus gereicht; den Nachmittagskaffee nahmen die Gäste bei den Nachbarn ein. Wie wichtig die ohnedies bedeutsame Nachbarschaftshilfe in bäuerlichen Gemeinschaften war, zeigte sich auch bei solchen Gelegenheiten: Es hat in Herne Bauernhochzeiten gegeben, an denen 700 Personen teilnahmen - für uns heute kaum noch vorstellbar, welch organisatorischer und finanzieller Aufwand vonnöten war, um eine Feier dieses Umfangs auszurichten. Nach dem Abendessen versammelten sich die Tanzlustigen auf der Deele eines Nachbarhauses und vergnügten sich dort, bis es um Mitternacht Zeit war, die Braut in ein anderes Kleid zu stecken und mit einer Nachtmütze zu schmücken, dem Bräutigam Holzschuhe anzuziehen und die beiden unter Scherz und Neckerei zu Bett zu bringen. Unauffällig, aber von allen bemerkt, hatten sich bereits nach dem Mittagessen zwei Nachbarn in ein kleines Nebenzimmer zurückgezogen, hinter sich die Tür abgeschlossen, Papier, Feder und Tinte bereitgelegt, und der Dinge geharrt, die da kommen sollten. Nach und nach erschienen nun die Gäste am Kammerfenster, um ihre Geschenke abzugeben. Meist war es ein großer Schinken, andere reichten einen Schinken und ein Huhn herein, und wieder andere legten noch drei oder fünf, gelegentlich auch zehn Talerdazu. Diebeiden Nachbarn notierten in einer Liste sorgfältig den Namen des Gebers, den Geldbetrag und das Gewicht der Naturalien. Und eben diese Liste war es, die Heinrich Wiesche in seinem Haferkasten versteckt hatte, denn wenn der Dorfgendarm sie entdeckt hätte, wäre für Wiesche selbst, den Gästebitter, für jeden Gast und für die beiden Nachbarn, die die Liste geführt hatten, eine hohe Geldstrafe, wahlweise drei Tage Gefängnis, fällig gewesen. Gebehochzeiten waren der Obrigkeit stets ein Dorn im Auge gewesen. Bereits 1656 hatte Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg versucht, den Umfang von Gebehochzeiten einzugrenzen. Ein Beweis dafür, daß die wenigsten gedachten, sich daran zu halten, ist die älteste Herner Gebehochzeitsliste aus dem Jahre 1784, die aufführt, was "dem Ehrsamen Georg Arndts und dessen Ehefrau Maria Catharina Overdrevermann am 9.ten Nov. h. a. (dieses Jahres) von vielen Freunden und Verwandten „verehret" worden war. Das junge Paar erhielt von den 186 in der Liste aufgeführten Personen insgesamt 226 Reichstaler 8 Stüber geschenkt, eine Summe, mit der man zur damaligen Zeit etwa 1 ½ Jahre den Lebensunterhalt für eine Familie bestreiten konnte. Das Geld, das bei einer Gebehochzeit zusammenkam, war im strengen Sinne jedoch kein Geschenk, sondern eine Art von Ehestandsdarlehen, mit dessen Hilfe die jungen Paare ihren Hausstand vervollständigen und bei Bedarf zusätzlichen Landbesitz und Vieh erwerben konnten. Die bäuerlichen Familien verfügten in früherer Zeit im Allgemeinen nicht über viel Bargeld, und durch diese Geldgaben erleichterte man sich gegenseitig den Start in einen eigenen Haushalt. Die sorgfältige Aufzeichnung der Geldgeschenke mit dem Namen des Gebers und der Höhe des Geldgeschenkes verpflichtete die Beschenkten: Heiratete einer aus der Familie derjenigen, die die Hochzeiter beschenkt hatten, konnte dieser von den zuvor Beschenkten eine Summe in derselben Höhe erwarten. Auf diese Weise stand für ein Brautpaar immer eine durch die dörfliche Gemeinschaft gesicherte Geldsumme bereit. In späterer Zeit, wie bei der Hochzeit Wiesche-Schlingermann, schenkte man dem Brautpaar neben Geld auch Naturalien, die man verkaufen und deren Erlös man nach Bedarf für den neuen Hausstand verwenden konnte. Die hohe Obrigkeit hat den Nutzen dieser bäuerlichen Gemeinschaftshilfe offenbar niemals recht verstanden. In einem Brief an den Herner Maire (Bürgermeister)Steelmann vom 31. August 1811 schreibt der Präfekt des Großherzogturns Berg: "Das Verzeichnen der Geschenke ist eine unwürdige Betteley und Sie mögen es überall dafür erklären." Am 3. Mai1829 schließlich erging von König Friedrich Wilhelm III. von Preußen das offizielle Verbot der Gebehochzeiten. Bemerkenswerterweise ist dabei das Verbot, Geldgeschenke zu machen und diese aufzuzeichnen, nur ein Punkt unter vielen, die von der Regierung bemängelt wurden. Bei Strafe verboten wurde auch der "Unfug der sogenannten Polterabende", bei denen das "Volk an ungewöhnlichen Zeiten und Orten" zusammenlaufe und durch nächtliche Schwärmereien" die Einwohner des Ortes beunruhige. Auch die große Zahl der Gäste, die im Allgemeinen weit über den Familienkreis hinausging, gab Anlass zur Beanstandung, da man fürchtete, dass Ausschreitungen entstehen könnten, gegen die ein einzelner Dorfgendarm selbstverständlich machtlos war. Auch die üppigen Schmausereien und die Tanzmusik gehörten zu den ab jetzt strafbaren "Lustbarkeiten". Bei der Bevölkerung stießen diese Verbote auf völliges Unverständnis. Neben dem Nutzen der Gebehochzeit für das Brautpaar bedeutete eine Hochzeitsfeier für die dörfliche Gemeinschaft stets einen Höhepunkt. In dem von harter Arbeit geprägten, oftmals eintönigen Alltagsleben der Bauern wurden Feste stets „feste" gefeiert denn man nutzte gern diese seltenen Gelegenheiten zu ausgiebiger Schmauserei, zum Tanzvergnügen und auch zu Unfug. Wer wollte es den Menschen verdenken, wenn sie sich an solchen Tagen ausgiebig in den Festtrubel stürzten und dabei manches Mal über das Ziel hinausschossen? Was Wunder, dass der nach Ruhe und Ordnung strebenden Obrigkeit dieses Treiben ein Dorn im Auge war. Es kam hinzu, dass nach damaliger Auffassung den niederen Ständen solch ausgiebige Festlichkeiten gar nicht zustanden, sondern in geziemend kleinem Kreise abzuhalten waren. Und noch eines befürchtete man seitens der Regierung: dass die enorme finanzielle Belastung, die die Bewirtung einer zahlreichen Gästeschar verursachte, die Leute in Schulden treiben und sie schlimmstenfalls um Haus und Hof bringen würde - eine nicht ganz unberechtigte Sorge, die sich allerdings nur selten bewahrheitet hat. Die Bauern hat dies indessen wenig gestört. Sie feierten weiter ihre Gebehochzeiten und kalkulierten gleich die vom Dorfgendarm aufgegebenen Strafen mit ein. Heute sind Gebehochzeiten in der früheren Form nicht mehr üblich. Verbindliche Regeln, durch alte Sitten und Gebräuche festgelegt, gibt es für eine Hochzeitsfeier nicht mehr. Anklänge an früher finden sich noch, wenn das Brautpaar einen Polterabend veranstaltet, mit einer Kutsche zur Kirche fährt oder wenn die Autos mit Schleifen geschmückt sind, wenn die Gäste für Braut und Bräutigam nach der Trauung Hindernisse aufbauen oder anderen Schabernack mit ihnen treiben. Dies alles geschieht jedoch nur noch mit verklärtem Blick auf die Romantik einer Hochzeit im Stil früherer Tage, deren eigentlicher Sinn heute bedeutungslos geworden ist.
Abschrift von Marcus Schubert aus dem Buch „Geschichten machen auch die kleinen Leut´…“ von Gabriele Wand-Seyer