Auf dem Stennert 9: Unterschied zwischen den Versionen
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Version vom 3. September 2024, 06:39 Uhr
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Das Küchengebäude für das Zwangsarbeiterlager „Ostbachtal“
„Es sei ausdrücklich darauf hingewiesen […], dass diese Forderungen nicht aus Gründen unangebrachter Sentimentalität oder Weichheit erhoben werden, sondern ausschließlich in der Absicht, eine größtmögliche Arbeitsleitung der Kriegsgefangenen zu erzielen.“
Mit diesem Worten rechtfertigte das zuständige Münsteraner Wehrkreiskommando im Mai 1943 seinen Appell, die Kriegsgefangenen in Herne und Wanne-Eickel angesichts bedenklich ansteigender Todesfälle adäquater zu versorgen und weniger zu misshandeln.[2] Wie überall in Deutschland war es auch im Ruhrgebiet zu Kriegszeiten gängige Praxis, Kriegsgefangene und Zwangsarbeitende aus den Ostgebieten zu verpflichten. Vor allem auf den Zechen nutzte man bereits im ersten Weltkrieg ‚Zivilarbeiter‘, wie die zwangsdeportierten Arbeitskräfte beschönigend genannt wurden.[3]
Diese Praktik nahm im Zweiten Weltkrieg unter der Herrschaft des NS-Regimes immense Ausmaße an. Zeitweise arbeiteten im Ruhrbergbau 150.978 deportierte Ausländer*innen.[4] Der größte Nutznießer der ‚Fremdarbeiter‘ in Herne war die Hibernia AG. Sie brachte in ihrem Hauptlager für die Zechen Shamrock 1/2 und 3/4 in Eickel über 2000 Menschen unter.[5] Generell verzichtete kaum ein Betrieb in Herne und Wanne-Eickel auf die Zwangsarbeitskräfte. Insgesamt wurden in Herne und Wanne-Eickel während des Zweiten Weltkrieges schätzungsweise 30.000 Zwangsarbeitende und Kriegsgefangene zum Arbeitseinsatz gezwungen. Hierfür entstanden im Raum Herne 76 Zwangsarbeiter- und Kriegsgefangenenlager. [6]
Bei dem Gebäude mit der Adresse Auf dem Stennert 9 handelt es sich um den letzten baulichen Rest des Zwangsarbeiterlagers Ostbachtal. Es wurde während des Zweiten Weltkrieges in den Jahren 1940/1941 errichtet und bot Platz für 1056 Menschen. Das dazugehörige Küchengebäude, was als einziges Gebäude noch steht, wurde 1944 aus Ziegeln traufständig gebaut, umfasste zwei Stockwerke, ein flaches Satteldach in Eisenbetonkonstruktion und war unterkellert.[7]
Über das Zwangsarbeiterlager Ostbachtal und seine Bewohner*innen zwischen 1940 und 1945 existieren kaum Quellen. Bekannt ist jedoch, dass die dort untergebrachten Zwangsarbeiter zur Rüstungsproduktion herangezogen wurden. Weil die Alliierten das Ruhrgebiet immer massiver bombardierten, verlegte das NS-Regime seine Waffenfertigung zunehmend unter Tage und nutzte die Strukturen der Montanindustrie vor Ort. Die in diesem Zuge eingesetzten Zwangsarbeitenden waren hochspezialisiert und somit bedeutend für die Kriegswirtschaft.[8] Daher gab es im Lager Ostbachtal drei umfangreiche Tiefbunker, in denen bis zu 570 Personen Schutz vor den Luftangriffen der Alliierten finden konnten.[9] In aller Regel blieb den ausländischen Zwangsarbeitenden der Zutritt in die – häufig von ihnen selbst errichteten – Bunker jedoch verwehrt. [10]
Wie viel Nahrung benötigt ein Zwangsarbeiter, um effektiv arbeiten zu können, ohne an Körpergewicht zuzulegen? Diese wirtschaftliche Fragestellung untersuchte der Dortmunder Arbeitsphysiologe Prof. Dr. Karl Kraut seit 1943 mithilfe von Ernährungsversuchen auf der Herner Zeche Friedrich der Große.[11] Insbesondere polnische und sowjetrussische Gefangene bekamen zu spüren, dass sie in der NS-Rassenhierarchie auf der untersten Stufe standen. Im Lager-Alltag bestimmten Herkunft und ‚Rasse‘ die Bedingungen der Verpflegung, Unterbringung und Kleidung.[12] Berichte von Zeitzeug*innen und Betroffenen übersteigen unsere Vorstellungskraft von dem Elend, das in den Lagern herrschte. [13] Unter den Verschleppten befanden sich zahlreiche Frauen und Minderjährige. In einem Brief erinnert sich die damals mit 15 Jahren aus Südrussland zwangsdeportierte Tamara Serjogina an ihre Zeit in der Schachtanlage Schamrock 3/4 in Wanne-Eickel.[14] Sie schreibt unter anderem:
„Die Baracken waren schmutzig, und es gab sehr viele Wanzen. Wir bekamen Arbeitskleidung, und nach einem Tag wurden wir zur Arbeit getrieben. Nach der Arbeit saßen wir in den Baracken, sangen Lieder, hatten Heimweh und weinten. In der Stadt Spazierengehen wurde uns nicht erlaubt, einige versuchten zu fliehen, aber sie wurden schnell gefangen und bei der Rückkehr bestraft. Wir hatten ein Abzeichen auf der rechten Seite: OST.“
Nach „Querelen“ wurde Tamara Serjogina zwischenzeitlich in das KZ Hattingen überführt, überlebte aber den Krieg und konnte im Oktober 1945 in ihre Heimat zurückkehren.[15]
Mehr als 1700 polnische und sowjetische Zwangsarbeitende starben jedoch in Herne und Wanne-Eickel durch Unterernährung, Folter, Schwerstarbeit, Arbeitsunfälle, Verschüttungen oder Hinrichtungen.[16] Spuren dieser Gewalttaten finden sich auf dem Waldfriedhof in Wanne-Eickel und dem Herner Südfriedhof an der Wiescherstraße. Dort erinnern unscheinbare Gedenktafeln und -steine an die Betroffenen.[17] Ihre Geschichten wurden in der deutschen Öffentlichkeit und Erinnerungskultur lange Zeit ausgeblendet. Zu Kriegszeiten wurde ihre Tortur in der Herner Bevölkerung kaum hinterfragt.[18] Die „Ausländer […] gehörten zum Kriegsalltag wie Lebensmittelkarten“[19] und ihre Diskriminierung wurde „ebenso als gegeben hingenommen wie die eigene bevorrechtigte Stellung ihnen gegenüber“.[20] Einen Eindruck der Kaltherzigkeit gegenüber den Kriegsgefangenen und deren Einsamkeit in der Fremde vermittelt ein Gedicht des damaligen Zwangsarbeiters Stanislaw Makowski; verfasst für seinen verstorbenen Freund:[21]
Er starb in Herne, im Krankenhaus, der aus der Heimat verjagte, er hatte den Namen Fauzszewicz, unter schrecklichen Leiden musste er armselig sterben, bei seinem Ende hatte er niemanden. Es kamen hierher nicht die Mutter, nicht die Schwester, nicht die Brüder, um ihn zum ewigen Schlaf zu verabschieden, sondern eine Ordensschwester, die in ihm unbekannten Worten sagte: „Schwein Pole tot!“
Seit den 1990er Jahren bemüht sich Herne verstärkt um Aufarbeitung. 1996 benannte die Stadt eine Straße zwischen Vinckestraße, Beien-Weg, Eisenbahn und Horsthauser Straße ‚Juri-Gerus-Weg‘. Ihr Namensgeber, ein russischer Zwangsarbeiter, kam 1943 mit 16 Jahren an der Wiescherstraße ums Leben.[22] Juri Gerus steht stellvertretend für das Leid aller Betroffenen. Heute wird der ehemalige Bereich des Lagers „Ostbachtal“ nahezu vollständig von dem Südfriedhof Herne bedeckt. Die drei großen Tiefbunker wurden vermutlich verschüttet (dazu gibt es keine Unterlagen). Einzig das Gebäude der ehemaligen Lagerküche hat die Zeit überdauert.[23] Damit kommt ihm eine hohe kulturhistorische Bedeutung für den Raum Herne zu.
Um einen Beitrag zur Erinnerungskultur zu leisten, wird eine Informationstafel an den Zaun des Gebäudes angebracht. Damit soll sich den Worten angeschlossen werden, die in das Herner Mahnmal für die Opfer des Widerstandes und der Zwangsarbeit an der Bebelstraße eingraviert wurden:[25]
Zum Gedenken an die vielen tausend Menschen aus den verschiedenen Staaten Europas, die in Herne und Wanne-Eickel während des Zweiten Weltkriegs unter unmenschlichen Bedingungen Zwangsarbeit leisten mussten.
Das Ledigenwohnheim für die Zechen „Friedrich der Große“ und „Mont-Cenis“
- Bis zu 8 „Putzfrauen“, für die entsprechende Räumlichkeiten zusätzlich vorgesehen waren, sollten „die Männerwirtschaft in Ordnung halten“ –
1951 fand eine Umnutzung des ehemaligen Küchengebäudes statt. Weil immer mehr Arbeitskräfte in den Bergwerken benötigt wurden, schaffte man günstigen Wohnraum. Die Zechengewerkschaft „Constantin der Große“ verwandelte das ehemalige Küchengebäude in ein „Ledigenwohnheim“ für die Berglehrlinge auf den Zechen „Mont Cenis“ und „Friedrich der Große“. Im Volksmund nannte man diese Unterkünfte „Bullenkloster“. [26] Nach dem Umbau blieben fast nur die Außenwände des Ziegelrohbaus erhalten. Das Dach wurde abgetragen und ein steileres, ausgebautes errichtet. Der Vorbau am Eingang wurde erneuert; zudem wurde das Gebäude mit großen Fenstern versehen. Vom Korridor aus erreichte man alle 3-Bett-Zimmer für die Berglehrlinge. Es gab außerdem einen Speisesaal, einen Aufenthaltsraum, einen Tischtennisraum und sogar eine Liegeterasse. [27]
Trotz dieser Ausstattung war das Ledigenheim kein Freizeitparadies: Häufig wurden die Bergarbeiter in den Wohnheimen so eng zusammengepfercht, dass Unzufriedenheit, Ärger, Streitigkeiten und Schlägereien nicht ausblieben. Viele der Männer waren der Hoffnung und zum Teil auch falschen Versprechungen ins Ruhrgebiet gefolgt, durch das „Schwarze Gold“ steinreich zu werden. [28] Die Realität sah jedoch anders aus. Die meisten malochten unter Tage und litten unter den körperlichen Auswirkungen der Schwerstarbeit, ohne jemals das erträumte Leben in Wohlstand zu erreichen.
1980er bis heute: Thema Grün
Nach der Schließung der Zechen „Friedrich der Große“ und „Mont Cenis“ wurde das Lehrlingsheim von der Nachfolgegesellschaft RAG am 30. Oktober 1978 an die Stadt Herne veräußert. Sie ließ in das ehemalige Küchengebäude ihr Grünflächenamt einziehen, das bis zum Oktober 2020 dort ansässig war. [29]
Im Juni 2022 kaufte die E-Gruppe das Grundstück und ließ das Gebäude zu einer Kita im Grünen umbauen. Betreiber der sogenannten „Kinderwelt Sodingen“ ist der Verein PlanB Ruhr e.V.
Ein Artikel von Jennifer Zorn (E-Gruppe)
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Einzelnachweise
- ↑ Foto: Stadtarchiv Herne
- ↑ Stadt Herne: Zwangsarbeit in Herne und Wanne-Eickel. https://www.herne.de/Stadt-und-Leben/Stadtgeschichte/NS-Opfer/Zwangsarbeit/#:~:text=In%20ihrem%20Hauptlager%20f%C3%BCr%20die,Lebensbedingungen%20zum%20Arbeitseinsatz%20gezwungen%20wurden, letzter Zugriff am 22.08.2024. Im Folgenden zitiert als: Stadt Herne: Zwangsarbeit.
- ↑ Peters-Schildgen, Susanne (1997): Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter. In Stadt Herne (Hrsg.): Auf dem Weg ins Paradies? Wanderungsbewegungen im Ruhrgebiet am Beispiel Herne, Begleitheft zur Ausstellung anlässlich des Jubiläums ‚100 Jahre Stadt Herne‘ in den Flottmann-Hallen, 1997, S. 48–50. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der Stadt Herne. Im Folgenden zitiert als: Peters-Schildgen (1997): Kriegsgefangene.
- ↑ Peters-Schildgen (1997): Kriegsgefangene.
- ↑ Stadt Herne: Zwangsarbeit.
- ↑ Peters-Schildgen (1997): Kriegsgefangene.
- ↑ Untere Denkmalbehörde der Stadt Herne (27.04.2023): Stellungnahme zur Bedeutung des Gebäudes "Auf dem Stennert 9", 44627 Herne, Gemarkung: Flur: Flurstück: Herne 20 9, i. S. d. § 35 Abs. 4 S. 1 Nrw. 4 BauGB, S. 1. Im Folgenden zitiert als: Untere Denkmalbehörde der Stadt Herne (27.04.2023): Stellungnahme.
- ↑ Untere Denkmalbehörde der Stadt Herne (27.04.2023): Stellungnahme, S. 2.
- ↑ Untere Denkmalbehörde der Stadt Herne (27.04.2023): Stellungnahme, S. 2.
- ↑ Peters-Schildgen (1997): Kriegsgefangene.
- ↑ Stadt Herne: Zwangsarbeit.
- ↑ Peters-Schildgen (1997): Kriegsgefangene.
- ↑ Peters-Schildgen (1997): Kriegsgefangene.
- ↑ Stadt Herne: Zwangsarbeit.
- ↑ Stadt Herne: Zwangsarbeit.
- ↑ Stadt Herne: Zwangsarbeit; Peters-Schildgen (1997): Kriegsgefangene.
- ↑ Peters-Schildgen (1997): Kriegsgefangene.
- ↑ Stadt Herne. Zwangsarbeit.
- ↑ Stadt Herne. Zwangsarbeit.
- ↑ Stadt Herne. Zwangsarbeit.
- ↑ Stadt Herne. Zwangsarbeit.
- ↑ Stadt Herne: Zwangsarbeit; Peters-Schildgen (1997): Kriegsgefangene.
- ↑ Untere Denkmalbehörde der Stadt Herne (27.04.2023): Stellungnahme, S. 2.
- ↑ Foto: Jennifer Zorn
- ↑ Stadt Herne: Zwangsarbeit.
- ↑ Wessel, Friedhelm: Im Ledigenheim. Historischer Verein Herne / Wanne-Eickel. https://wiki.hv-her-wan.de/Im_Ledigenheim, letzter Zugriff am 22.08.2024. Im Folgenden zitiert als Wessel: Im Ledigenheim; Krohm, Reinold: Erinnerung. Historischer Verein Herne / Wanne-Eickel. https://wiki.hv-her-wan.de/Im_Ledigenheim, letzter Zugriff am 22.08.2024. im Folgenden zitiert als Krohm: Erinnerung.
- ↑ Untere Denkmalbehörde der Stadt Herne (27.04.2023): Stellungnahme, S. 2.
- ↑ Krohm: Erinnerung; Wessel: Im Ledigenheim.
- ↑ Untere Denkmalbehörde der Stadt Herne (27.04.2023): Stellungnahme, S. 2.