Beleidigung Anno 1910

Aus Hist. Verein Herne / Wanne-Eickel

Der Generalanzeiger für Dortmund veröffentlichte am 7. Dezember 1910 einen Artikel über ein Beleidigungsprozess in der Herner Oberschicht an. Zustände Anno domini:

"Herne, 6. Dezember. 1910

Ein Beleidigungsprozeß, der heute vor dem hiesigen Schöffengericht verhandelt wurde, erregt hier allgemeines Aufsehen wegen der dabei beteiligten Persönlichkeiten und weil die Angelegenheit bereits in der Stadtverordnetenversammlung zur Sprache gebracht worden ist.
Der stellvertretende Stadtverordnetenvorsteher, Bauunternehmer Leopold Hoppe klagte gegen den Bauunternehmer Friedr. Schrader wegen Verleumdung und Beleidigung.
Der Klage liegt folgender Sachverhalt zu Grunde: Bauunternehmer Schrader, der früher Polier bei dem Kläger gewesen war, sich nachher aber mit Hoppe verfeindet hat, hatte sich in einem Briefe an Hoppes Schwiegermutter gewandt, die ebenfalls mit Hoppe auf gespanntem Fuße steht und ihn nach Möglichkeit bekämpft. In dem Briefe hatte Schrader den Bauunternehmer Hoppe des Betruges gegenüber der Stadtverwaltung Herne beschuldigt. Er erklärte darin, zu der Zeit als Schrader noch als Polier bei dem Kläger gewesen sei, habe Hoppe bei dem Bau der Realschule die Stadt Herne um Tausende geschädigt, indem er für die Bodenanfuhr erheblich mehr in Rechnung gestellt habe, als wirkgeliefert worden sei.

Hoppes Schwiegermutter, Frau Witwe Cleves, erstattete daraufhin Anzeige bei der Polizeiverwaltung in Herne wegen Betruges und fügte den Brief! Schraders der Anzeige bei. Hoppe gelangte nun auf eigenartige Weise zur Kenntnis des Inhalts dieses Briefes. Ein Wachtmeister der Königl. Polizei in Herne machte von dem Brief eine Abschrift, die er dem Beigeordneten Stadtrat Sassenhof übergab, und dieser, ein Freund Hoppes, machte den Brief bezw. dessen Abschrift Hoppe zugänglich, der daraufhin gegen Schrader Zivilklage wegen Verleumdung und Beleidigung erhob, nachdem inzwischen die Angelgenheit bereits von einem Stadtverordneten in öffentlicher Sitzung gegen den Stadtverordnetenvorsteher=Stellvertreter vorgebracht worden war.
In der heutigen Verhandlung vor dem Schöffengericht erklärte der Beklagte Bauunternehmer Schrader, er bleibe dabei, daß die von ihm bezeichneten Unregelmäßigkeiten vorgekommen seien. Er selbst habe als damaliger Polier Hoppes sich daran beteiligen müssen. Hoppe habe ihm und einem anderen Angestellten namens Grote gewissermaßen als Anteil eine Gratifikation von 300 Mark geschenkt.
Als Zeugin wurde die Schwiegermutter Hoppes vernommen, die unter ihrem Eide aussagte, Grote habe ihr vor Jahren gesagt, wenn Hoppe ihm nicht die 300 Mark ausgezahlt hätte, wäre die Sache für ihn (Hoppe) bös ausgelaufen. Sie habe daraufhin ihren Schwiegersohn gefragt, er müsse wohl bei dem Schulbau einen tüchtigen „Rebbach“ gemacht haben, worauf dieser erwidert habe, die Mauern seien dick, an der Bodenanfuhr habe er einen tüchtigen Schnitt gemacht.
Der als Gutachter vernommene Architekt Gerbens aus Bochum bekundete, daß nach seinen Feststellungen in der Tat mehr Boden berechnet, als geliefert sein müsse.
Der Kläger, Bauunternehmer Hoppe, gab darauf eine Erklärung ab des Inhalts, daß er mit dem damaligen Stadtbaumeister Schubert, jetzt in Witten ein Abkommen getroffen gehabt habe, wonach er für jede Karre voll 1,40 Kubikmeter habe in Rechnung stellen können, auch wenn die Karren nicht so stark beladen gewesen wären. Die 300 Mark, die er seinem Bautechniker Grote und seinem Polier Schrader gegeben habe, seien nichts weiter als gewöhnliche Weihnachtsgeschenke gewesen.
Zeuge Bautechniker Grote, der noch jetzt in Diensten des Klägers steht, bestätigte dieses mit dem Bemerken, er habe jedes Jahr 300 Mark Weihnachtsgratisikation erhalten.

In seinem Plaidoyer führte der Vertreter des Klägers, Justizrat Diekmann=Herne, aus, die Verhandlung habe nichts gegen den Kläger erwiesen, bei den Ausstreuungen Schraders handle es sich um eine wissentliche böswillige Verleumdung, die strengste Strafe erheische. Der Vertreter bat das Gericht, den Beklagten schuldig zu sprechen und zu einer empfind lichen Freiheitsstrafe zu verurteilen.
Ihm gegenüber trat Rechtsanwalt Max Frank 1, Dortmund, als Verteidiger des Beklagten auf. Er rügte in scharfer Weise die Aushändigung der Briefabschrift an Stadtrat Sassenhof. Es sei unerhört, daß ein Beigeordneter der Stadt Herne sich von einem Wachtmeister der Königlichen Polizei unter Verletzung der Amtsverschwiegenheit sich Abschrift einer Strafakte habe machen lassen, und dies an einen Freund weiter gegeben habe. Diese Angelegenheit werde noch weitere Kreise ziehen.
Der Beweis der Wahrheit für die Angaben Schraders sei seiner Ansicht nach voll erbracht. Jeder Kaufmann und Gewerbetreibende werde bezeugen können und müssen, daß es ganz unwahrscheinlich sei, daß ein Angestellter mit nur 160 Mark Monatsgehalt im ersten Jahre seiner Anstellung eine Weihnachtsgratifikation von 300 Mark bekomme. Die 300 Mark seien keine Gratifikation sondern ein Schweigegeld. Es sei auch unwahrscheinlich, daß Schrader sich selbst der Beihilfe zu Betrügereien beschuldigen werde, wenn an der Sache nicht etwas wahres wäre. Der Antrag des Verteidigers ging dahin, den Angeklagten frei zu sprechen und dem Kläger die Kosten aufzuerlegen.

Nach fast einstündiger Beratung — die Verhandlung dauerte insgesamt vier Stunden — verkündete Amtsrichter Jonas das Urteil. Danach wurde der Beklagte nicht wegen Verleumdung sondern nur wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe von 75 Mark verurteilt. Der Vorsitzende betonte in seiner Urteilsbegründung, daß in der Tat manches dafür spreche, daß nicht alles ordnungsmäßig zugegangen sei bei dem Schulbau. Das Gericht glaube auch, daß mehr Bodenausfuhr berechnet als geliefert worden sei, aber es sei nicht erwiesen, daß dieses vom Kläger absichtlich und in betrügerischer Absicht geschehen sei. Andererseits sei das Gericht zu der Ueberzeugung gekommen, daß dem Beklagten der gute Glaube nicht abzusprechen sei, und habe darum nicht auf eine Freiheitsstrafe, sondern auf Geldstrafe erkannt, für die es 75 Mark als ausreichend erachtet habe.

Wie wir weiter erfahren, beabsichtigen beide Teile gegen dieses Urteil Berufung einzulegen."

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Quellen