Knöll 1922 - Die Stadt Herne in städtebaulicher Hinsicht VIII
Der Nachfolgende Artikel stammt von Stadtbaurat Heinrich Knöll und wurde in seinem Buch "Deutscher Städtebau - Herne i. Westfalen" auf den Seiten 8-26 abgedruckt.
Der Historische Verein dankt seinem Enkel Heinz-Dieter Knöll für die Abdruckgenehmigung herzlich. Der Artikel Knölls spiegelt die damalige Lage der Stadt dar und zeigt doch, dass sich die Themen grundsätzlich nicht geändert haben.
Aufgrund der Größe des Artikels ist dieser geteilt worden.
Die Stadt Herne in städtebaulicher Hinsicht.
Von Beigeordneter und Stadtbaurat KNÖLL.
[...]
7. Die Zukunft der Stadt Herne.
Durch die rasche Entwicklung des rheinisch-westfälischen Industriegebietes sind an die Stadt- und Gemeindeverwaltungen schwierige Aufgaben von derartigem Umfange herangetreten, dass auf alle Entwicklungsmöglichkeiten nicht genügend Rücksicht genommen werden konnte, zumal es an einer einheitlichen Leitung fehlte. Vom Industriegebiet liegt der westliche Teil in der Rheinprovinz, deren Oberpräsidium seinen Sitz in dem weitabgelegenen Koblenz hat, während die Hauptstadt des zuständigen Regierungsbezirks das auch noch außerhalb des eigentlichen Industriegebiets gelegene Düsseldorf ist. Der östliche Teil des Industriegebiets liegt in der Provinz Westfalen und gehört südlich zum Regierungsbezirk Arnsberg, nördlich zum Regierungsbezirk Münster, wo gleichfalls der Oberpräsident der Provinz Westfalen seinen Sitz hat. Beide Hauptstädte sind ebenfalls von dem Industriegebiet weitab gelegen. Die dringend notwendige einheitliche Verwaltung des bis zu einem gewissen Grade in sich abgeschlossenen, nach ganz anderen Gesichtspunkten wie die übrigen Teile der in Betracht kommenden Provinzen und Regierungsbezirke zu behandelnden Industriegebiets hat daher gefehlt. Zwei Oberpräsidenten und drei Regierungspräsidenten konnten unmöglich ihre Verwaltungsmaschinen auf eine örtlich verhältnismäßig kleine Grenzmark einstellen. Wohl ist die Schaffung einer Industrieprovinz ein alter Gedanke, gegen den aber jederzeit scharfe Gegner mit spitzen Waffen aufgetreten sind.
Erst nach dem verlorenen Weltkriege und infolge der dadurch dem deutschen Volke auferlegten Leistungen konnten die früheren Hindernisse einigermaßen aus dem Wege geräumt werden. Deutschland hatte an den Feindbund große Kohlenlieferungen zu leisten, zu deren Erfüllung nach Einführung der verkürzten Arbeitszeit 150 000 Bergarbeiter im rheinisch-westfälischen Industriegebiet neu angesiedelt werden mussten. Diese Ansiedlung bedeutete die Notwendigkeit der Neubeschaffung von Wohngelegenheit für 600 000 Menschen. Die dadurch einsetzende rege Bautätigkeit machte auf Grund des Gesetzes vom 5. Mai 1920 die Gründung des Siedlungsverbandes Ruhrkohlenbezirk notwendig, der mit seinen verschiedenartigen Organen, dem Verbandspräsidenten, dem Verbandsdirektor, dem Verbandsausschuss, dem Verbandsrat und der Verbandsversammlung, die vorher dem Oberpräsidenten und Regierungspräsidenten, Bezirksausschuss usw. zustehenden siedlungstechnischen Aufgaben übernommen hat.
Die wichtigste Aufgabe des Siedlungsverbandes ist die auf Grund des § 16 Ziffer 3 des vorgenannten Gesetzes am 15. Dezember 1920 zum ersten Male erfolgte und alle drei Jahre zu erneuernde Aufstellung eines Verzeichnisses über die Straßen, Plätze und Flächen das aus 15 Stadt-und 11 Landkreisen bestehende Verbandsgebiet, für die das Fluchtlinienwesen auf den Verband übergeht. Dieses Verzeichnis sieht für die Stadt Herne als Haupt- und Durchgangsverkehrsstraße in nordsüdlicher Richtung die von Recklinghausen über Herne und Bochum über Hattingen führende Verbandsstraße N. S. VII, in ost-westlicher Richtung die von Dortmund über Castrop, Herne nach Buer führende Verbandsstraße 0. W. II und weiter die Verbandsstraße D. V. a von Ickern über Herne und Wanne nach Gelsenkirchen vor. Da diese Verbandsstraße in erster Linie den Schnell-und durchgehenden Straßenbahnverkehr aufnehmen sollen, sind sie unter Umgehung des Stadtkerns vorgesehen. Die Gesamtstraßenbreite von 35 Meter kann an dichtbebauten Stellen auf 26 Meter ermäßigt werden. In dem Verzeichnis ist ferner die Führung des Verkehrsverbandes V. IVb mit einem Abzweig V. IVc von Herne nach Recklinghausen und der Haardt vorgesehen. Dieses Verkehrsband stellt die bereits früher geplante Städteschnellbahn von Köln-Düsseldorf über Essen nach Dortmund dar. Der erste von Regierungs- und Baurat Karg stammende Entwurf, der auf der Strecke von Essen bis Dortmund nur eine einzige Linie über Gelsenkirchen und Herne vorsah, ist seinerzeit auf den Einspruch der Stadt Bochum durch eine zweite Linie über Bochum ergänzt worden. Wann diese Städteschnellbahn gebaut werden wird, ist noch unbestimmt, weil die heutigen wirtschaftlichen Verhältnisse dazu nicht gerade ermutigen. Richtig aber ist, dass, wenn aus Ersparnisgründen nur eine Linie ausgebaut werden kann, diese längs des Kanals, dem Emschertal folgend, geführt werden muss, weil hier die wirtschaftliche Zukunft liegt und die von der Nordlinie berührten Städte, Gemeinden und industriellen Ansiedlungen in ihrer Gesamtzahl heute schon die von der Südlinie angeschlossenen Städte, Gemeinden und Werke an Bevölkerungszahl und Erzeugnissen eingeholt haben. Außer den vorgenannten Verbandsstraßen und Verkehrsbändern sind in dem Verbandsverzeichnis auch noch eine Anzahl von Flächen vorgesehen, die zur Anlage von Grünflächen und Erholungsstätten für die Bebauung ausgeschlossen bleiben müssen. Wenn auch mit dem Bau sämtlicher in dem Verbandsverzeichnis vorgesehener Straßen und Plätze noch nicht begonnen werden kann, so ist ein wesentlicher Vorteil dadurch erreicht, dass durch die fluchtlinienmäßige Festsetzung die weitere Entwicklung gesichert wird. Für die Städte und Gemeinden bedeutet allerdings die Aufstellung des Verbandsplanes eine wesentliche Mehrarbeit, weil die ganzen bisher aufgestellten Bebauungspläne entsprechend umgearbeitet werden müssen.
Für die zukünftige städtebauliche Entwicklung der Stadt Herne ist zu berücksichtigen, dass von dem 1702 Hektar großen Stadtgebiet 480 Hektar (= 28,2 v. H.) als bebaut anzusehen sind. 130 Hektar (= 7,6 v. H.) sind Eisenbahn- und Straßen-flächen, 80 Hektar (— 4,7 v. 1-1.) Wasserflächen, 40 Hektar (= 2,4 v. H.) durch den Verbandsplan des Siedlungsverbandes Ruhrkohlenbezirk vorbehalten als Verbandsstraßen und Verkehrsbänder, 237 Hektar (= 13,9 v. H.) gleichfalls nach dem Verbandsplan als Grünflächen von der Bebauung ausgeschlossen, 160 Hektar (= 9,4 v. H.) sind von der Industrie für ihre Anlagen bereits in Anspruch genommen.
Von dem Rest des Stadtgebietes sind 210 Hektar (= 12,3 v. H.) für industrielle Erweiterungen und Neuansiedlungen vorbehalten. 50 Hektar (= 2,9 v. H.) entfallen auf Baulücken, 85 Hektar (= 5,0 v. 11.) ist als günstiges Siedlungsgelände zu bezeichnen, während 130 Hektar (= 7,7 v. H.), und zwar 85 Hektar (= 5 v. H.) wegen Bodensenkungen, 25 Hektar 1,5 v. H.) wegen Rauchbelästigungen, 20 Hektar 1,2 v. H.) wegen sonstiger ungünstiger Lage für Siedlungszwecke wenig geeignet sind. Als Feld- und Pachtland sollen 100 Hektar 5,9 v. H.) ebenfalls von der Bebauung ausgeschlossen bleiben.
Bezüglich der Besitzverhältnisse sind 570 Hektar (= 33 v. H.) industrieller, 274 Hektar (= 16 v. 1-1.) landwirtschaftlicher und 100 Hektar (= 6 v. H.) städtischer Besitz. Nach dem bestehenden, der Bauordnung für die Stadt Herne zugrunde gelegten Zonenplane erfolgt die Bebauung des Stadtgebietes nach vier Bauklassen. Bei einer derzeitigen Einwohnerzahl von 68 725 kommen für das 1702 Hektar große Stadt-gebiet durchschnittlich 40 Menschen auf einen Hektar. Nimmt man nur den jetzt bebauten Teil des Stadtgebietes mit insgesamt 480 Hektar, so beträgt die durchschnittliche Siedlungsdichte 160 Menschen auf 1 Hektar.
Will man untersuchen, wie weit das jetzige Stadtgebiet noch für eine weitere Ansiedlung von Menschen ausreicht, so muss mit einer jährlichen Bevölkerungszunahme von 3 v. H. gerechnet wer-den. In erster Linie werden die 50 Hektar Baulücken für die Bebauung in Anspruch genommen werden. Hierbei kann mit einer Besiedlung von 180 Menschen auf einen Hektar gerechnet werden. Die 50 Hektar Baulücken würden dann die Ansiedlung von rund 9000 Menschen ermöglichen und im Jahre 1925 voll ausgebaut sein. Die Gesamteinwohnerzahl der Stadt Herne würde dann 77 725 betragen.
Nach dem Jahre 1925 müsste das sonst im Stadtgebiet noch vorhandene, 85 Hektar große, geeignete Siedlungsgelände bebaut werden. Unter Annahme einer Ansiedlung von 120 Menschen auf einen Hektar (offene Bebauung) würde diese Fläche bis zum Jahre 1929 ausreichen. Die Gesamtbevölkerungszahl hätte sich inzwischen auf 87 925 erhöht. Vom Jahre 1925 ab müsste ungünstiges Siedlungs-gelände (85 Hektar im Senkungsgebiet, 20 Hektar sonst wie ungünstig gelegenes und 25 Hektar der Rauchbelästigung ausgesetztes Gelände) für die Bebauung in Anspruch genommen werden. Es könnten darauf wiederum unter Annahme einer Ansiedlung von 120 Menschen auf einen Hektar bis zum Jahre 1935 rund 15 600 Menschen angesiedelt werden, wodurch die Gesamteinwohnerzahl der Stadt Herne auf 103 525 anwachsen würde. Nach dem Jahre 1935 müsste das für die Ernährung erforderliche Feld- und Pachtland (100 ha) bebaut werden. Dieses Gelände würde unter den gleichen Voraussetzungen wie vorher für eine Ansiedlung von 5000 Menschen ausreichen und bis zum Jahre 1939 bebaut sein. Die Gesamteinwohnerzahl der Stadt Herne würde dann 115 525 betragen. Nach dieser Berechnung könnten auf dem jetzigen Stadtgebiet innerhalb der nächsten sieben Jahre unbedenklich noch weitere rund 19 000 Menschen angesiedelt werden. Die Wünsche der Stadt Herne gehen aber dahin, durch entsprechende Eingemeindungen noch weiteres günstiges Siedlungsgelände zu bekommen. Selbst wenn diese Wünsche nicht in vollem Umfange in Erfüllung gehen sollten und die Stadt für die weitere Besiedlung das genannte, wenig günstige Siedlungsgelände und die für Feld- und Pachtland vorbehaltenen Gebiete in Anspruch nehmen müssten, so wären immerhin noch im jetzigen Stadtgebiet für 28 000 Menschen Raum, ohne dass die Baudichte über ein gesundes Verhältnis hinaus erhöht werden müsste. Da außer den vorhandenen 160 Hektar Industriegelände noch weiter 210 Hektar für industrielle Erweiterungen und Neuansiedlungen mit Bahn-und Wasseranschluss vorhanden sind und vorbehalten bleiben, erscheint die Zukunft der Stadt Herne auch in dieser Hinsicht gesichert.
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