Herne hatte ein Stadttheater II (1965)

Aus Hist. Verein Herne / Wanne-Eickel

Von Karl Brandt

Herne hatte ein Stadttheater

In der ersten Folge wurden Episoden des Herner Theaterlebens aus der Zeit zwischen 1913 und dem Frühjahr 1923 dargestellt. — Im hier folgenden zweiten Teil kommt die aufgrund der äußerst ungünstigen Zeitverhältnisse nur kurze Periode eines gemeinsamen Theaters der Städte Herne und Wanne-Eickel zur Darstellung. Der Verfasser gibt dazu in der für ihn typischen Art eigene Erlebnisse zum Besten.

Das Stadttheater unter der Direktion von Kohlar

Ende Mai 1923 übernahm ein neuer Direktor mit einem neuen Ensemble das Stadttheater. Es war ein Herr P. Kohlar, Pächter des Stadtgarten-Restaurants in Wanne-Eickel, das mit einem größeren Saal verbunden war. Unter dieser neuen Leitung und in der Verbindung mit der Wanner Bühne erhielt das Herner Theater nunmehr den Namen "Vereinigte Stadttheater Herne-Wanne". Kohlar hatte ein Ensemble, das hauptsächlich auf die Operette abgestimmt war, aber durchaus auch in der Lage war, Opern aufzuführen. Dabei mussten dann allerdings jeweils Hilfskräfte hinzugezogen werden. Doch entsprechend den Herner Wünschen wurden auch Schauspiele gegeben. Insgesamt gesehen war der Spielplan eine gute Mischung von Operette, Schauspiel und Oper. Neben dem Inhaber und Direktor P. Kohlar wirkten der künstlerische Leiter Markus Schulinger und als ständiger Kapellmeister ein Herr Pollini. Bezüglich des äußeren Habitus konnte man sich keine größeren Gegensätze vorstellen, als Schulinger und Pollini! Ersterer wirkte wie ein gesetzter Kraftmensch, jedoch mit weltmännischen Manieren, und jener war ein kleiner, schmächtiger ruhiger Mann, der bei den Proben niemals die Nerven verlor. Anders wiederum Schulinger, dessen tiefer Bariton fast auf der Bahnhofstraße zu hören war, wenn er „loslegte". Er sang in manchen Opern die größeren Bariton-Partien, wie z. B in „Tiefland" den Sebastiane oder im „Troubadour" den Grafen Luna. Es kann hier noch eingeschaltet werden, dass die Tenorrollen von dem dänischen lyrischen Tenor Christensen gesungen wurden, einem erstklassigen Sänger und Schauspieler, der später auch eine gute Karriere machte. übrigens war er der Typ eines guten Wagner-Sängers, auch der Gestalt nach.

Leider war damals immer noch die „Besatzungszeit", und fast jeden Abend war es ein Problem, nach Wanne oder von dort nach Herne zu kommen. Häufig setzte die Straßenbahn aus. Außerdem musste an Winterabenden ab 17 Uhr eine Laterne mitgeführt werden und wehe, wenn so ein Ding nicht brennen wollte, wenn man gerade unterwegs war! Viele Male haben wir zu Fuß den Weg zwischen Herne und Wanne und zurück gemacht. Dabei fehlte es nicht an „dramatischen Begebenheiten". Gefährlich war es stets an den Brücken, die Tag und Nacht von den Franzosen bewacht wurden. In Herne-Baukau mussten wir durch Koops-Brücke am Ende der La-Roche-Straße, wo meistens ganz junge und „machtbewußte" Franzosen „Wache hielten". Sie hatten ziemlich „lose Hände". Ihre Spezial-Methode war u. a. die: War eben die Dämmerung eingetreten, und man kam zur Brücke, dann flitzte die Wache heran, pflanzte sich vor einem auf und rief: „Päss, Päss?!". Dann langte man nach seiner Rocktasche — und in dem Augenblick hatte man einen Kinnhacken weg! Einmal jedoch ist es so einem Bürschchen schlecht ergangen. Im Chor hatten wir einen stämmigen „Berliner Jungen", den Alfred Köhler. Als wir wieder einmal an Koops-Brücke angehalten wurden, sollte er auch einmal seinen Kinnhacken abbekommen, denn (so meinten wir) geteiltes Leid ist halbes Leid. Bums, hatte Alfred auch den Kinnhacken weg. Aber im selben Moment hatte auch der Franzose gleich rechts und links einige Male „einen weg", so dass er völlig benommen „aus" war. Flugs war dann, ehe von der Wache aus Gefahr kommen konnte, unser Amateur-Boxer aus Berlin im sogenannten Roseneck verschwunden. Durch die Zeche Julia und weiterhin durch die Wiesenstraße flitzte er davon und war eher im Stadttheater in Wanne als wir anderen. — Natürlich hatte Köhler mit uns „absolut nichts zu tun"!

Hier an der Brücke ist es auch dem Tenor Christensen einmal übel ergangen. Er wurde nämlich von einem der Wachhabenden „angesudelt" (ungebildet ausgedrückt würde das etwas sehr abscheuliches bedeuten). Christensen „protestierte" wohl, aber der übermütige französische Heldenjüngling machte ruhig weiter, — wir waren einfach baff! An dem Abend mussten dann aber die Wanner etwas länger auf den Anfang des Stückes warten, denn Christensen ging zum Kommandanten, der gab ihm zwei Mann mit, und unser sudelnder Jüngling auf der Wache fiel aus allen Wolken als er abgeführt wurde. – Ja, verehrte Zeitgenossen der jüngeren Jahrgänge, die Herner haben schon in den letzten 50 Jahren allerhand erlebt, wovon sich manche heute nichts träumen lassen! Sie haben sich dabei auch ihren Theaterabend auf mancherlei Art „etwas kosten“ lassen!

Theaterbegeisterte Herner trugen das Theater mit

Ich kann hier nicht all die Erlebnisse, die mit dem Stadttheater zusammenhängen, erzählen. — Nur noch einige Kleinigkeiten. Damals hatte ich gar keine Vorstellung davon, wie viel Operetten es wohl eigentlich gab. Nach einem alten Überschlag von mir, sind damals in Herne wohl an die 45 verschiedene Operetten aufgeführt worden. Vermutlich waren die wenigsten „ganz große Klasse". Wer kennt wohl heute noch „Die vom Prinzessin Nil"? Das war ein tolles Stück um eine altägyptische Mumie, die alle 1000 Jahre einen Tag zum Leben aufwacht. Und wer hat je von der Operette „Katja, die Tänzerin" gehört? Wie alle Operetten damals bei uns stand auch sie wochenlang auf dem Programm. Mit ihr verbinden sich bei mir besondere Erlebnisse, zwar waren stets mehrere Stücke vorbereitet, aber nur für zwei die Ausstattung vorhanden, namentlich die Kulissen. Deswegen mussten sie häufiger umgestrichen und umbemalt werden. Das musste schnell gehen, manchmal war nur eine einzige Nacht Zeit dazu. Eine Zeitlang besorgte die Bemalung ein Kunstmaler aus Dortmund, der aber meistens betrunken war. Zur Premiere für „Katja, die Tänzerin" musste die Ummalung besonders schnell vonstattengehen, aber wer nicht kam, war der Herr Kunstmaler! Direktor Kohlar saß in der Klemme und ließ bei Herner Malern anfragen, aber keiner war zu haben. Schließlich erbot ich mich, „einen Maler zu beschaffen". „Mensch, Mann, warum haben Sie das nicht gleich gesagt, dass Sie einen Theatermaler an der Hand haben!? Nun mal los, schaffen Sie den Mann heran!" So fuhr mich freundschaftlich Herr Kohlar an. Mit dem Fahrrad raste ich zur Cranger Straße . . . zu meinem Vater und gewann ihn. Dann zurück — und nach einer Stunde war auch mein Vater da. Mein Vater, ein mehr als bescheidener, ruhiger Mann mit Kopfweite 58 und völlig unscheinbar, wurde zunächst auf der Bühne nicht beachtet. Seine erste eilige Arbeit an dem Tage sollte es sein, eine Blockhütte, die wir aus Dachlatten und Sackleinen gebaut hatten, so zu bemalen, dass man das „Bauwerk" als Blockhütte erkannte. Da das Stück an der russisch-türkischen Grenze im Winter spielte, musste auf die einzelnen gemalten Baumstämme der Hütte auch noch Schnee „aufgelegt" werden, um diese und das war schon Kunst. Brandt-Senior zog seinen Kittel an, und da merkten alle Anwesenden: Der Mann will malen! Sofort steckten sie die Köpfe zusammen: „Ob der das kann? Wer ist — der Mann?". Ich grinste nur und gab keine Auskunft. Inzwischen hatte ich schon die notwendigen Farben bereitgemacht. Maler Brandt wickelte imponierte seine Pinsel aus, und dann malte er ohne jegliche Vorzeichnung mit Kreide oder Kohle jeweils die ersten Baumstämme und legte gleich die Schatten so an, dass wirklich der Dümmste sehen konnte: Das sind Baumstämme. Als eine Wand trocken war, wurde mit weißer Farbe "Schnee aufgelegt". Das wurde derartig naturgetreu, dass mich Direktor Kohlar auf die Seite nahm und mich leise fragte: „Donnerwetter, der kann's aber, wer ist der Mann?" Ich antwortete nur, es sei ein Maler aus der Vorstadt von Herne. So hat dann danach mein Vater bis ans Ende der Direktion Kohlar die Kulissen gemalt, wobei ich die gröberen Arbeiten und . . . die Kalkulation machte. — Ja, es heißt ja auch bei der Kunst, können muss man was, dann ist man angesehen oder auch nicht! Aus den Stücken, deren Ausstattung uns besondere Freude machte, erinnere ich mich noch an einige. Da war noch die große Operette „Madame Pompadour". Voller Handlung in der Regie und von prächtiger Ausstattung war bei uns auch „Die Dollarprinzessin".

Auch Ballett und Chor

Ich muss noch auch berichten, dass eine ständige Tanzgruppe sowie ein Chor vorhanden waren. Bei den Tänzerinnen gab es kreuz und quer Rivalitäten, und die hübschen Mädchen haben sich untereinander manchen üblen Streich gespielt. Der Chor bestand völlig aus Herner Jungen, nur der oben genannte Alfred Köhler war Berliner Herkunft, er arbeitete in Herne. Der beste Sänger und Schauspieler unter uns war Paul Vogt, ein flinker Bursche. Dann kam der Herner Fotograf Karl Epping, der meist auch die längsten und besten Rollen bekam. In der romantisch-komischen Oper „Martha" beispielsweise spielte er den Richter, wie das bei mir noch vorhandene Programm ausweist. Auf dem Programm steht ganz oben auch der Name Charlotte Gleisberg. Sie war Sopranistin und Kolloratursängerin erstes Klasse und als solche in Herne sehr beliebt. Wenn sie ihre Koloraturen sang, fragte man sich unwillkürlich, wann sie wohl Atem schöpfte, das merkte man nämlich nicht. Klar und hell war ihre Stimme, und es will etwas heißen, dass, wenn sie sang, das gesamte Bühnenpersonal zuhörte, die anderen Spieler kamen dazu häufig aus ihren Garderoben, um in der Kulisse zuzuhören – und diese Zuhörer waren schon abgebrüht. Ihnen imponierte nur eine Glanzleistung.

Und nun noch einmal zu den Programmen

Ich hatte einige Dutzend davon als Theater- bzw. Programmzettel aufbewahrt, aber nur wenige sind mir verblieben und gerade die, auf denen mein Name nun nicht verzeichnet ist. Ich ärgere mich, dass ich nun so nicht „nachweisen" kann, dass auch ich auf den Brettern, die die Welt bedeuten, gestanden habe. Doch es sind noch einige Zeitungsausschnitte da, die das und einiges mehr belegen. Am besten ist mir noch meine Mitwirkung in „Das Dreimädelhaus" in Erinnerung. Darin habe ich den Zeichner Kupelwieser gespielt und gesungen. Damals hatte ich schon über zwei Jahre Gesangsunterricht bei dem Kammersänger Oskar von Lauppert[1] in Dortmund genommen und war sehr wohl in der Lage, eine Arie und noch einiges sonst einwandfrei zu singen. Es fehlte mir auch nicht an „Material", da kamen sogar die anderen drei nicht mit! Tenorbuffo war ein Mann mit Namen Denker, und wenn ich in dem Quartett zu laut wurde, trat er mir recht unsanft auf die Zehen, bis ich dermaßen zurücktrat, dass er für einen Moment seinen Text vergaß. — Ja, der gute Denker, — wenn wir „davon" mehrere in Herne gehabt hätten, bestände wohl auch noch das „Bürgerliche Brauhaus"!!!

Tatsächlich war ich damals drauf und dran, Opernsänger zu werden. Dazu hatten mir auch der erste Herner Finanzamtsleiter, Regierungsrat Bruns und seine Frau geraten. Beide galten in Fragen der Kunst als sehr sachkundig. Frau Bruns war eine in der Herner Gesellschaft bekannte und beliebte Sängerin. Mein Kamerad im Gesangsunterricht war auch der später wohlbekannte Bariton am Kölner Theater, Felix Knäpper. Nur wurde er eher fertig als ich, und ich gab es auf. Mich fesselten „die Steine" und das Spüren im Vergangenen schließlich mehr, und wie eine Herner Zeitung einmal schrieb: „Als wir Herrn Brandt fragten, warum er nicht bei der Bühne geblieben sei, meinte er, er habe sich nicht „verstellen" können (wenigstens nicht auf Kommando, füge ich hier hinzu!). Nun, wer Karl Brandt kennt, weiß, dass diese Bemerkung den Nagel auf den Kopf trifft". —Nun — genug der Erinnerungen, die mir plötzlich aus allen Winkeln gekrochen kommen. Hier sollte nur einiges aus der so lebendigen Zeit des Stadttheaters Herne überliefert werden. Im Jahre 1925 war es damit vorerst aus. [2]

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Einzelnachweise