Juden: zuerst entrechtet und dann vernichtet (WAZ 2014)
Die jüdische Gemeinde war 100 Jahren integriert. Doch spätestens mit der Reichspogromnacht am 9. November 1938 begann ihre Verfolgung.
Die Juden waren vor 100 Jahren in Herne alteingesessene Bürger und etabliert in Geschäftsleben und Politik. Erst mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus setzte ihre Verfolgung ein, die am 9. November vor 76 Jahren in der Zerstörung der Synagoge an der Ecke Schaeferstraße/Hermann-Löns-Straße ausartete.
Jürgen Hagen forschte im Stadtarchiv und fasste die Geschichte der Juden in Herne-Mitte zusammen.
Mit der Industrialisierung und der allmählichen Herausbildung einer städtischen Infrastruktur mit Handel und Dienstleistungen wuchs auch die Zahl jüdischer Bürger in den Städten des Ruhrgebiets.
In Herne siedelten sich jüdische Kaufmannsfamilien vom Mittelrhein an. Diese jüdischen Zuwanderer etablierten sich in der Herner Gesellschaft. Mit der Einweihung der Herner Synagoge im Jahre 1911, an der die politische und wirtschaftliche Prominenz teilnahm, war die Etablierung abgeschlossen. Dies zeigt sich u. a. daran, dass der Kaufmann und Synagogenvorsteher Moritz Gans zeitweilig Stadtverordneter war. Der jüdische Mittelstand war in der Gesellschaft integriert.
Anders sah das bei den sogenannten Ostjuden aus, die nach dem Ersten Weltkrieg aus dem neugegründeten Staat Polen und der Ukraine zuwanderten. Diese verdingten sich in der Mehrzahl als Bergleute oder Industriearbeiter, fanden aber keinen Zugang zur alteingesessenen jüdischen Gemeinde und der Herner Gesellschaft. Der 30. Januar 1933 brachte für die Herner Juden eine völlige Änderung ihrer Lebensgrundlage. Wirtschaftliche Ausbeutung, politische Entrechtung und schließlich physische Vernichtung waren nach nationalsozialistischem Willen die drei Stufen, in denen das Leben der Juden beendet werden sollte.
Die Spannungen zwischen den etablierten Juden und den Ostjuden machten sich die Nazis zunutze, indem sie zunächst vermehrt die Ostjuden angriffen. Damit wollten sie eine Solidarisierung beider Gruppen verhindern. Antisemitische Maßnahmen zielten stets zuerst gegen die Ostjuden. So waren die Ostjuden Opfer der ersten Großdeportation aus Herne.
Dem jüdischen Mittelstand wurde versucht, durch Boykotts und Überfälle die wirtschaftliche und gesellschaftliche Lebensgrundlage zu entziehen. Trotzdem blieben viele Herner Juden in der Stadt. Zum einen, weil trotz der Boykottmaßnahmen viele Herner weiterhin in jüdischen Geschäften kauften, wie z. B. der Sozialdemokrat Karl Hölkeskamp, zum anderen, weil viele persönliche Bindungen entstanden waren.
Für die Juden selbst unerwartet, setzte in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 eine von der NSDAP organisierte „Orgie von Zerstörungen, Plünderungen, Synagogenanzündungen und wüsten Ausschreitungen im ganzen Reich“ ein, die sogenannte Reichskristallnacht.
Auch in Herne brannten die Synagoge und einige Geschäfte. Scheiben von Geschäften und Wohnungen wurden eingeschlagen; Einrichtungen verwüstet und geplündert. Eine unbekannte Zahl von jüdischen Bürgern wurden verhaftet und bis Weihnachten 1938 im KZ Sachsenhausen interniert.
Am folgenden Tag führten Lehrer – auf Befehl der Stadtoberen – die Schulkinder an der noch brennenden Synagoge vorbei.
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Quelle
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