Zum Brauch der Gebehochzeiten (Wand-Seyer 1989)

Aus Hist. Verein Herne / Wanne-Eickel

"Strafbare Lustbarkeiten und unwürdige Betteley": Zum Brauch der Gebehochzeiten

Der Morgen des 3. Juli 1867 war für Bauer Heinrich Wilhelm Wiesche aus Holthausen etwas beschwerlich. Am Tage zuvor hatte er geheiratet, und nun stand Wiesche - noch leicht benommen von den gestrigen Festlichkeiten - auf der Deele und schaute sich das Durcheinander an, das übriggeblieben war. Schließlich wandte er sich um und schloss die Tür zu einer kleinen, direkt neben der Feuerstelle liegenden Kammer auf. Vor ihm lagen 55 Schinken, Gesamtgewicht 802 und ein halbes Pfund, aus der Zimmereckeblickten ihn drei Schweinsköpfe an und unter der Decke waren sorgsam 41 Hähne und Hühner aufgehängt. Ganz besonders zufrieden aber war Heinrich Wiesche mit dem Gewicht der Schatulle auf dem Tisch, enthielt sie doch genau 454 Taler und 13 Silbergroschen, von denen ihm nach Abzug aller Kosten für die Hochzeit noch 344 Taler bleiben würden. Zum Glück hatte der Dorfgendarm von den vielen Geschenken und der Liste nichts gemerkt oder nichts merken wollen. Aber alle waren sehr vorsichtig gewesen, und die Listehatte er trotz seiner Schlagseite noch in der vergangenen Nacht im Haferkasten auf der Tenne verschwinden lassen, so dass das Hauptbeweisstück erst einmal aus dem Verkehr gezogen war.

Was Heinrich Wiesche hier vor den Augen der ungnädigen Obrigkeit verborgen hatte, war die Liste der Geschenke, die seine junge Frau Alwine Schlingermann und er am gestrigen Tage von Verwandten und Freunden zur Hochzeit erhalten hatten. Heinrich Wiesche, der 1935 hochbetagt im Alter von 98 Jahren starb, berichtete, daß er mit seiner Frau die letzte in Holthausen stattfindende "Gebehochzeit" gefeiert habe, eine Hochzeit noch ganz nach dem Brauch früherer Zeiten.

Eine solche Hochzeit war stets ein dorfbewegendes Ereignis. Kam einer der beiden zukünftigen Eheleute gar von auswärts, was nicht selten geschah, so waren gleich zwei Dörfer in festliche Stimmung versetzt. Selbstverständlich war in der dörflichen Gemeinschaft spätestens seit der Verlobung eines Brautpaares bekannt, dass bald eine Hochzeit zu feiern war. Die Verlobung, bei der die Brautleute die Ringe tauschten, wurde jedoch üblicherweise nur im kleinen Familienkreis gefeiert. Sobald das Brautpaar aber zum ersten Mal in der Kirche aufgeboten worden war, warfen große Ereignisse ihre Schattenvoraus. Zunächst einmal kaufte die Jugend aus der Nachbarschaft dem Bräutigam die Braut ab. Geschäftstüchtig trieb man dabei den Preis so hoch dass der Erlös für alle Beteiligten zu einen gepflegten Umtrunk in der Dorfwirtschaft reichte.

Zu dieser Zeit war bereits der „Gassenbitter“ (Gästebitter) unterwegs, um alle Gäste zur Hochzeitsfeier persönlich einzuladen. Man erzählte sich, dass niemand so schön zur Hochzeit bitten konnte wie Wilm Frackmann:

"lck lade Ink ter Hochteyt in,
do gitt et Beier, Wien und Branntewien,
Musikaten söllt nich te wennig sien,
do gitt et en Stück vam Schinken,
do könnt Ji gutt nao drinken,
do gitt et en Stück vam Broen,
do könnt Ji gutt nao gohen,
do gitt et en Stück van ne Wuorst,
dat ist gut jör de Buorst.
Makt Ink fien,
awer nich to fien,
Brut un Brütigam
willt am fiensten sien. "

"Ich lade euch zur Hochzeit ein,
da gibt es Bier, Wein und Branntwein,
Musikanten sollen nicht zu wenig sein,
da gibt es ein Stück vom Schinken,
da könnt Ihr gut nach trinken,
da gibt es ein Stück vom Braten,
da könnt Ihr gut nach gehen,
da gibt es ein Stück von der Wurst,
das ist gut für die Brust.
Macht Euch fein,
aber nicht zu fein,
Braut und Bräutigam wollen
am feinsten sein."

Bei Wilm Frackmann verband sich die Würde, mit der er sein Amt versah, aufs Glücklichste mit seiner Trinkfestigkeit, denn zum Dank für die von ihm überbrachte Einladung offerierte man ihm bei jeder Familie, die er aufgesucht hatte, ein Gläschen Schnaps, dessen Wirkung Frackmann in bewundernswerter Weise wegsteckte.
Am Tage vor der Hochzeit waren die Nachbarn des Brautpaares in vollem Einsatz. Es galt zunächst, den Brautwagen mit der Aussteuer der Braut zu richten. Dies durften nur die älteren, verheirateten Nachbarn vornehmen. Auf diesem Wagen lag alles, was die junge Braut in ihren zukünftigen Haushalt mitnehmen würde: Truhen, gefüllt mit Leinenrollen, Kleider, Leibwäsche und Haustextilien, das Ehebett, Flachshecheln und ein Spinnrad, Kühe und Schweine, die, mit Bändern herausgeputzt, hinter dem Wagen her trotteten – und nicht zu vergessen den Hahn, dem man zwangsweise ein Glas Schnaps verabreicht hatte, damit er, wenn auch bedenklich unsicher auf einem Reisigbesen balancierend, den Zug des Brautwagens mit gehörigem Krähen begleite. Bei der Ankunft am Hause des Bräutigams verschwand dann regelmäßig ein Rad vom Brautwagen, das gegen ein hübsches Sümmchen von den Nachbarn der Braut bei den Nachbarn des Bräutigams wieder ausgelöst werden konnte.

Der Vorabend der Hochzeit wurde zum Schmücken der Türen im Hochzeitshause genutzt, zum Herrichten des Brautbettes und, besonders von der Jugend, zum Poltern. Je mehr Lärm, desto lieber und besser für das Brautpaar, denn durch viel Krach ließen sich die vielen bösen Geister verscheuchen, die nach altem Glauben dem Brautpaar hätten gefährlich werden können.
Am Hochzeitstag zog das Brautpaar nach der kirchlichen Trauung mit seinen Gästen zum Hochzeitshause zurück - überflüssig zu erwähnen, dass auf diesem Wege Hindernisse aufgebaut waren, deren Beseitigung man nur durch eine Geld Gabe erreichen konnte. Mittag- und Abendessen wurden im Hochzeitshaus gereicht; den Nachmittagskaffee nahmen die Gäste bei den Nachbarn ein. Wie wichtig die ohnedies bedeutsame Nachbarschaftshilfe in bäuerlichen Gemeinschaften war, zeigte sich auch bei solchen Gelegenheiten: Es hat in Herne Bauernhochzeiten gegeben, an denen 700 Personen teilnahmen - für uns heute kaum noch vorstellbar, welch organisatorischer und finanzieller Aufwand vonnöten war, um eine Feier dieses Umfangs auszurichten.

Nach dem Abendessen versammelten sich die Tanzlustigen auf der Deele eines Nachbarhauses und vergnügten sich dort, bis es um Mitternacht Zeit war, die Braut in ein anderes Kleid zu stecken und mit einer Nachtmütze zu schmücken, dem Bräutigam Holzschuhe anzuziehen und die beiden unter Scherz und Neckerei zu Bett zu bringen.

Unauffällig, aber von allen bemerkt, hatten sich bereits nach dem Mittagessen zwei Nachbarn in ein kleines Nebenzimmer zurückgezogen, hinter sich die Tür abgeschlossen, Papier, Feder und Tinte bereitgelegt, und der Dinge geharrt, die da kommen sollten. Nach und nach erschienen nun die Gäste am Kammerfenster, um ihre Geschenke abzugeben. Meist war es ein großer Schinken, andere reichten einen Schinken und ein Huhn herein, und wieder andere legten noch drei oder fünf, gelegentlich auch zehn Talerdazu. Die beiden Nachbarn notierten in einer Liste sorgfältig den Namen des Gebers, den Geldbetrag und das Gewicht der Naturalien. Und eben diese Liste war es, die Heinrich Wiesche in seinem Haferkasten versteckt hatte, denn wenn der Dorfgendarm sie entdeckt hätte, wäre für Wiesche selbst, den Gästebitter, für jeden Gast und für die beiden Nachbarn, die die Liste geführt hatten, eine hohe Geldstrafe, wahlweise drei Tage Gefängnis, fällig gewesen.

Gebehochzeiten waren der Obrigkeit stets ein Dorn im Auge gewesen. Bereits 1656 hatte Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg versucht, den Umfang von Gebehochzeiten einzugrenzen. Ein Beweis dafür, daß die wenigsten gedachten, sich daran zu halten, ist die älteste Herner Gebehochzeitsliste aus dem Jahre 1784, die aufführt, was "dem Ehrsamen Georg Arndts und dessen Ehefrau Maria Catharina Overdrevermann am 9.ten Nov. h. a. (dieses Jahres) von vielen Freunden und Verwandten verehret" worden war.

Das junge Paar erhielt von den 186 in der Liste aufgeführten Personen insgesamt 226 Reichstaler 8 Stüber geschenkt, eine Summe, mit der man zur damaligen Zeit etwa 1 ½ Jahre den Lebensunterhalt für eine Familie bestreiten konnte. Das Geld, das bei einer Gebehochzeit zusammenkam, war im strengen Sinne jedoch kein Geschenk, sondern eine Art von Ehestandsdarlehen, mit dessen Hilfe die jungen Paare ihren Hausstand vervollständigen und bei Bedarf zusätzlichen Landbesitz und Vieh erwerben konnten. Die bäuerlichen Familien verfügten in früherer Zeit im Allgemeinen nicht über viel Bargeld, und durch diese Geldgaben erleichterte man sich gegenseitig den Start in einen eigenen Haushalt. Die sorgfältige Aufzeichnung der Geldgeschenke mit dem Namen des Gebers und der Höhe des Geldgeschenkes verpflichtete die Beschenkten:

Heiratete einer aus der Familie derjenigen, die die Hochzeiter beschenkt hatten, konnte dieser von den zuvor Beschenkten eine Summe in derselben Höhe erwarten. Auf diese Weise stand für ein Brautpaar immer eine durch die dörfliche Gemeinschaft gesicherte Geldsumme bereit. In späterer Zeit, wie bei der Hochzeit Wiesche-Schlingermann, schenkte man dem Brautpaar neben Geld auch Naturalien, die man verkaufen und deren Erlös man nach Bedarf für den neuen Hausstand verwenden konnte.
Die hohe Obrigkeit hat den Nutzen dieser bäuerlichen Gemeinschaftshilfe offenbar niemals recht verstanden. In einem Brief an den Herner Maire (Bürgermeister) Steelmann vom 31. August 1811 schreibt der Präfekt des Großherzogturns Berg: "Das Verzeichnen der Geschenke ist eine unwürdige Betteley und Sie mögen es überall dafür erklären." Am 3. Mai 1829 schließlich erging von König Friedrich Wilhelm III. von Preußen das offizielle Verbot der Gebehochzeiten. Bemerkenswerterweise ist dabei das Verbot, Geldgeschenke zu machen und diese aufzuzeichnen, nur ein Punkt unter vielen, die von der Regierung bemängelt wurden. Bei Strafe verboten wurde auch der "Unfug der sogenannten Polterabende", bei denen das "Volk an ungewöhnlichen Zeiten und Orten" zusammenlaufe und durch "nächtliche Schwärmereien" die Einwohner des Ortes beunruhige. Auch die große Zahl der Gäste, die im Allgemeinen weit über den Familienkreis hinausging, gab Anlass zur Beanstandung, da man fürchtete, dass Ausschreitungen entstehen könnten, gegen die ein einzelner Dorfgendarm selbstverständlich machtlos war. Auch die üppigen Schmausereien und die Tanzmusik gehörten zu den ab jetzt strafbaren "Lustbarkeiten".

Bei der Bevölkerung stießen diese Verbote auf völliges Unverständnis. Neben dem Nutzen der Gebehochzeit für das Brautpaar bedeutete eine Hochzeitsfeier für die dörfliche Gemeinschaft stets einen Höhepunkt. In dem von harter Arbeit geprägten, oftmals eintönigen Alltagsleben der Bauern wurden Feste stets „feste" gefeiert denn man nutzte gern diese seltenen Gelegenheiten zu ausgiebiger Schmauserei, zum Tanzvergnügen und auch zu Unfug. Wer wollte es den Menschen verdenken, wenn sie sich an solchen Tagen ausgiebig in den Festtrubel stürzten und dabei manches Mal über das Ziel hinausschossen?

Was Wunder, dass der nach Ruhe und Ordnung strebenden Obrigkeit dieses Treiben ein Dorn im Auge war. Es kam hinzu, dass nach damaliger Auffassung den niederen Ständen solch ausgiebige Festlichkeiten gar nicht zustanden, sondern in geziemend kleinem Kreise abzuhalten waren. Und noch eines befürchtete man seitens der Regierung: dass die enorme finanzielle Belastung, die die Bewirtung einer zahlreichen Gästeschar verursachte, die Leute in Schulden treiben und sie schlimmstenfalls um Haus und Hof bringen würde - eine nicht ganz unberechtigte Sorge, die sich allerdings nur selten bewahrheitet hat. Die Bauern hat dies indessen wenig gestört. Sie feierten weiter ihre Gebehochzeiten und kalkulierten gleich die vom Dorfgendarm aufgegebenen Strafen mit ein.

Heute sind Gebehochzeiten in der früheren Form nicht mehr üblich. Verbindliche Regeln, durch alte Sitten und Gebräuche festgelegt, gibt es für eine Hochzeitsfeier nicht mehr. Anklänge an früher finden sich noch, wenn das Brautpaar einen Polterabend veranstaltet, mit einer Kutsche zur Kirche fährt oder wenn die Autos mit Schleifen geschmückt sind, wenn die Gäste für Braut und Bräutigam nach der Trauung Hindernisse aufbauen oder anderen Schabernack mit ihnen treiben. Dies alles geschieht jedoch nur noch mit verklärtem Blick auf die Romantik einer Hochzeit im Stil früherer Tage, deren eigentlicher Sinn heute bedeutungslos geworden ist.

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Quellen

Wand-Seyer 1989, Mit freundlicher Genehmigung.