Ripp (1980) 8

Aus Hist. Verein Herne / Wanne-Eickel

QUELLENARBEIT

ehem.
Pädagogische Hochschule Berlin ‚ Historisches Seminar

H E R N E - DIE ENTSTEHUNG EINER RUHRGEBIETSSTADT
Der Einfluss von Bergbau und Industrie auf die Entwicklung der Stadt Herne - anhand einer Festschrift zur Einweihung des Rathauses 1912

von Winfried Ripp


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3.3.4. Wirtschaftliche Entwicklung

Landwirtschaft

Bis zum Beginn der Bergbauentwicklung nehmen im gesamten Ruhrgebiet die landwirtschaftliche Nutzfläche und der Waldbestand zu. In den südlichen bereits erschlossenen industriell besiedelten Gebieten bestehen gute Absatzmöglichkeiten für Holz und Nahrungsmittel. Diese Ausweitung wurde durch die Kultivierung von großen Allmenden (vorher als Viehweiden genutzt), Heide- und Ödlandgebieten möglich. [1]

Die Allmende und Waldgebiete in der Herner Gegend wurden zur Schweinezucht benutzt. [2]

Mit dem großen Bodenbedarf von Industrie und Bergbau und der nachfolgenden Wohnungs- und Verkehrsbautätigkeit wurden zuerst die Waldflächen und anschließend der landwirtschaftlich genutzte Boden verringert. [3]

Schaefer erwähnt hiervon nichts, sondern beschränkt; sich lediglich auf die Nennung der wenig aussagekräftigen Hektarflächen für die Landwirtschaft. (S.18) Die Aufzählung der großen Zahl Schweine und Ziegen sagt nichts über die tatsächliche Herner Landwirtschaft aus, da - wie er selber erwähnt - diese Tiere meist von Bergleuten gehalten wurden. Die Bauweise vieler Bergmannswohnungen ('Kolonien') mit großen Frei- und Gartenflächen sowie mehreren Ställen hinter den Häusern, begünstigte die 'Kleintierhaltung. In wirtschaftlichen Notzeiten, die besonders in den 70er und 80er Jahren des 19. Jahrhunderts (u.a. "Gründerkrise" etc.) häufig Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit zur Folge hatten, dienten Gartenflächen und Kleintierhaltung als wichtige Nahrungsgrundlage für die Arbeiter.

Die Industrie

Der Bergbau als Moter der Herner Industrieentwicklung nahm 1856 seine Produktion auf. Er hatte zu diesem Zeitpunkt bereits den qualitativen Sprung zur Tiefbauförderung in Großbetriebseinheiten, die für damalige Verhältnisse enorme-Kapitalsummen erforderten, vollzogen. 1850 hatte sich die Steinkohleförderung an der Ruhr mit 3,25 Mio. t [4] im Vergleich zu 1850 (1,66 Mio. t [5]) bereits verdoppelt. 1860 betrug sie 4,27 Mio. t und 1870 bereits 11,57 Mio. t [6]. 1880 waren es 22,36 Mio. t, 1890 35,51 Mio. t, 1895 42,27 Mio. t [7], 1900 60,11 Mio. t, 1910 89,1 Mio. t und 1913 114,18 Mio. t Steinkohle [8].

Der Herner Bergbau steigerte seine Produktionsleistungen besonders in den Jahren zwischen 1880-1890 in denen das Bevölkerungswachstum und der Männerüberschuss besonders groß waren. Im Ruhrgebietsvergleich erfolgte in Herne die größte Steigerung der Kohlenforderung einige Jahre früher. Hier spielen geologische Gegebenheiten eine Rolle.

Die günstigsten nördlicheren Kohlenlagen wurden erst einige Jahre später als die Herner Vorkommen ausgebeutet, da der Bergbau im Ruhrgebiet wie bereits erwähnt eine Süd-Nord-Wanderung seiner Abbaustätten vollzog.

Schaefer hebt besonders die Gründung des .Kohlensydikats für Preise und Absatzpolitik des Ruhrkohlebergbaus im Jahre 1893 als positiv hervor. Die meisten Herner Zechengesellschaften traten dem Syndikat bei. Damit wurde eine neue Ära der deutschen Industrieentwicklung eingeleitet, die das Ende des liberalen Konkurrenzkapitalismus signalisierte. Zweck des Syndikats war die Erhöhung des Ertrags und die größtmögliche Ausschaltung konjunktureller Absatzschwankungen. Die Ruhrzechen, die ihm beitraten, hatten einen Anteil von 93 % an der Gesamtfördermenge. Den einzelnen Zechen wurden Produktionskontingente zugeteilt. Durch Betriebs- und Abbaufelderzusammenlegungen, die Konzentration von Teilen des kaufmännischen Bereichs und den verstärkten Einsatz neuster Technologie erreichte das Syndikat schnell sein Ziel.

Der preußische Staat versuchte zwar noch mit Hilfe der Beteiligung an der Bergwerksgesellschaft Hibernia, Herne diese Politik zu durchkreuzen, wurde aber durch eine - auch von Schaefer erwähnte - "Vereinigung von Hibernia -Aktionären, Herne G.m.b.H., Herne", die durch das Syndikat und die Großbanken gegründet worden war, in die Knie gezwungen. 1912 trat der preußische Staat dann mit seinen Zechenbeteiligungen selbst dem Syndikat bei. [9]

Die Arbeiterbewegung hatte dieser Monopolpolitik des Zechenkapitals nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen.

Sie war durch die Spaltung in einen christlichen und einen sozialdemokratischen Gewerkschaftsflügel ("Alter Verband") und der Hoffnung auf die Rückkehr zu den ehemaligen ständischen Privilegien der Bergleute handlungsunfähig und desorientiert. [10] Erst die großen Ruhrarbeiterstreiks 1898 und in Herne 1899,von 4.000 unorganisierten polnischen Bergarbeitern für Lohnerhöhungen und gegen Diskriminierung geführt [11], kündigten eine Wende an.

Die von Schaefer nur summarisch aufgeführte Eisenindustrie ist nicht mit den Werken in den Städten Essen, Duisburg, Bortmund, Bochum und Gelsenkirchen zu vergleichen. In diesen Städten gibt es Großbetriebe und Verarbeitungsfirmen, die von der Verhüttung über Halbfertigerzeugnisse bis zum Endprodukt das Eisen verarbeiten. Sie haben Maschinenfabriken und andere Verarbeitungsbetriebe angeschlossen. In Herne herrscht der bergbaubezogene Maschinenbau und der mittel- und kleinbetriebliche Zuliefererbetrieb vor. 10.000 Bergbaubeschäftigten stehen laut Schaefer 1910 etwa 2.000 Beschäftigte in der Eisenindustrie gegenüber. Die Dominanz des Bergbaus in allen Herner gesellschaftlichen Bereichen wird durch dieses Verhältnis verständlich.

Alle nicht bergbauabhängigen Betriebe (mit zwei Ausnahmen) sind in Herne als unbedeutend zu bezeichnen.

Unerwähnt bleibt vom Autor die durch das preußische Dreiklassenwahlrecht mögliche direkte Einflußnahme der Industrie auf die Gemeindevertretung. In Westfalen hatten sogar Industriebetriebe in der ersten Abteilung Stimmrecht. Für Bochum und. Essen (Krupp zeitweise einziger Wähler in der I. Abteilung) wurde u.a. von Croon (Bochum) untersucht, dass die Industrie auch ausgiebig von ihren Einflussmöglichkeiten Gebrauch machte und die Gemeindepolitik faktisch bestimmte. Sie hatte auch in den anderen Abteilungen Vertreter: Angestellte und von der Großindustrie abhängige Gewerbetreibende. Es ist mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass dieses auch für Herne gilt.

Der vom Autor kurz angesprochene Widerstand der alteingesessenen Bauern und Handwerker gegen den in kurzer Zeit übermächtigen Eindringling Bergbau ist auf diesem Hintergrund verständlich, da alle gesellschaftlichen Verhältnisse und der gesamte Landschafts- und Lebensraum dieser Menschen nachhaltig verändert wurde. Die Skepsis und Abwehr der „Poalbörger“ [12] richteten sich gegen zugewanderte Arbeiter und Zechenführungen und Angestellte gleichermaßen.

Diese Spannungen wurden besonders von Helmuth Croon untersucht. [13]

Sieburg beschreibt das Problem wie folgt: "Man sah dabei die Industrie oftmals zu komplex als etwas einheitlich— Ganzes, ohne immer zwischen den klaffenden Gegensätzen, die zwischen Unternehmertum und. Arbeiter bestanden, genau zu scheiden. Man empfand das Neue eben in dieser Gesamtheit als unheimlich und. hassenswert... Der Hass gegen das Neue ... verband sich dann mit der Abneigung gegen die in hässlichen Häusern wohnenden Ostmenschen und verengte sich schließlich, als der "Widerstand gegen die Industrie als •solche um 1900 endgültig mit der Landwirtschaft zerschmolzen war, zu einer hemmungslosen Antipathie, welche der Deutsche des Ruhrgebiets bis in die. 20er Jahre des neuen Jahrhunderts hinein den als völlig wesensfremd empfundenen "Pollaken" entgegengebracht hat." [14]

Für Schaefer ist die Förderung der Industrie das wichtigste Anliegen eine Kommunalpolitikers: "Die Industrie zu 'fördern muß auch fernerhin die Aufgabe der Städte und Gemeinden des Ruhrreviers sein."[15] Schaefer hat sich "seit seinem Amtsantritt 1879 mit zäher Konsequenz gegen allen Widerstand der alteingessenen Bevölkerung" [16] durchgesetzt.

Handel und. Gewerbe

Auch diese Wirtschaftszweige sind von der Bergbau- und Industrieentwicklung des Ruhrgebiets unmittelbar abhängig. Nur bei ausreichender Kaufkraft der Bergarbeiterlöhne ist ihre Existenz gesichert - damals wie heute.

Die rasch steigenden Beschäftigten- und Einwohnerzahlen Hernes zogen auch viele Gewerbetreibende an, die offensichtlich mehr anboten als nachgefragt wurde. Der leichte Rückgang bzw. die Stagnation von 1908-11 beweisen das. Über die Struktur der Herner Betriebe der damaligen Zeit macht der Autor der Quelle keine Angaben, lediglich Selbstverwaltung und Krankenkassenwesen werden beschrieben. Hier fehlen mir allerdings Vergleichszahlen und Literatur über andere Ruhrgebiets- und Reichsstädte.



Fortsetzung ...

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  1. Meier, Friedhelm: Die Änderung der Bodennutzung und des Grundeigentums im Ruhrgebiet 1820 bis 1955, 1961, S.22-37
  2. Brandt, Karl; Reiners, Leo: Herne 1938, S. 30
  3. Meier, F.‚ a.a.0., 8.22-37
  4. Horst, W. ‚ a.a.O.,S.2
  5. ebenda ‚ S.17
  6. ebenda, S.28
  7. ebenda, S.42
  8. ebenda ‚ S. 57
  9. Spethmann, H. ‚ a.a.0. S.494-501
  10. Weber, Wolfhard: Der Arbeitsplatz in einem expandierenden Wirtschaftszweig: Der Bergmann ‚ S.95
  11. Er wurde blutig durch Militär unterdrückt. Schaefer gab den Befehl auf Streikende zu schießen. (siehe Reulecke J., a.a.O., 3.256 und Sieburg, H.O. ‚ a.a.0. ‚ S.150). Es gab mehrere Tote.
  12. Westf. Platt: Pfahlbürger, Alteingesessener
  13. Croon,H.,Utermann,K., Zeche und Gemeinde, a.a.0.; Croon, H.: Die Einwirkungen, a.a.O., S. 307; Croon, H.: Die Einwirkungen der Industrialisierung auf die Gemeindevertretungen, S. 57-68
  14. Sieburg, H.0.., a.a.O. ‚ S. 153
  15. Schaefer, a.a.0. ‚ S. 25
  16. Croon, H. ‚ Städtewandlungen ... ‚ a.a.0. ‚ S.498. siehe auch Knöll, 1922, a.a.0. ‚ S. 7