Ripp (1980) 7

Aus Hist. Verein Herne / Wanne-Eickel

QUELLENARBEIT

ehem.
Pädagogische Hochschule Berlin ‚ Historisches Seminar

H E R N E - DIE ENTSTEHUNG EINER RUHRGEBIETSSTADT
Der Einfluss von Bergbau und Industrie auf die Entwicklung der Stadt Herne - anhand einer Festschrift zur Einweihung des Rathauses 1912

von Winfried Ripp


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3.3.Interpretation und Kritik

3.3.1. Das Herner Stadtgebiet

Typisch für die Entwicklung der Ruhrgebietsstädte ist das Entstehen eines städtisch orientierten Kerns mit den ursprünglichen dörflichen Siedlungen als Mittelpunkt. In Herne entwickelte sich dieser Kern vom alten Dorf aus zum 18147 eröffneten Bahnhof der Köln-Mindener Eisenbahn hin entlang der Provinziallandstraße. Diese Entwicklung ist für den Emscherraum typisch. Wanne (heute nach Herne eingemeindet) und Gelsenkirchen entwickelten sich ähnlich. Die älteren Ruhrgebietsstädte am Hellweg nördlich der Ruhr mit gewachsenen historischen Stadtkernen (Dortmund, Bochum, Essen, Mühlheim, Duisburg) unterscheiden sich deutlich davon.

Die Städte nördlich der Emscher (mit Ausnahme der wesentlich älteren Stadt Recklinghausen) entwickelten sich entweder ähnlich wie Herne oder direkt neben einer Zeche oder industriellen Anlage. Dies-ist auch bei den 1908 nach Herne eingemeindeten Orten Baukau und Horsthausen der Fall Die ursprünglich dort vorhandenen Bauernschaften bzw. Dorf er waren so unbedeutend, dass sie keine Basis für eine Stadtentwicklung mit Mittelpunkts- und Versorgungsfunktionen bieten konnte So war mit steigender Einwohnerzahl eine Eingemeindung unumgänglich, Diese Entwicklung nahmen im Ruhrgebiet faktisch alle Dörfer mit Zechen oder Eisenwerken in ihrer Nähe. [1] Es gab allerdings auch Orte, die sich nur um einen Industriestandort oder Bahnhof herum entwickelten. Beispielhaft dafür ist die Stadt Oberhausen, die sich aus mehreren kleinen unbedeutenden Orten ohne eigentlichen Kern entwickelte, wo nur der Bahnhof, eine Eisenhütte, Zechen und ein Zinkwalzwerk die Stadtmitte bildeten. [2]

Um eine städtische Entwicklung möglich zu machen, waren die Eingemeindungen verschiedener kleinerer Gemeinden für alle Ruhrgebietsstädte, so auch Herne, notwendig.

3.3.2. Die Bevölkerungsentwicklung

Die Einwohnerzahlen Hernes sind schon im Kapitel 2.3. "Die Entwicklung der Stadt Herne..." ausführlich dargestellt worden (siehe S.7-10). Die große Zahl der polnisch sprechenden Einwohner hatte tiefgreifende Folgen für die Entwicklung der Stadt. Die Kluft zwischen den alteingesessenen Landwirten und Handwerkern auf der einen Seite und den zugewanderten Bergarbeitern auf der anderen Seite vergrößerte sich durch Sprachschwierigkeiten bzw. unterschiedliche Mentalität und Lebensgewohnheiten. Diese Situation ist sehr gut mit den Problemen der "Gastarbeiter" aus Südeuropa und der Türkei in der Bundesrepublik seit den sechziger Jahren zu vergleichen. Auffällig ist hierbei, dass sich viele Vorurteile der Bevölkerung und Fehler der Behörden wiederholen. In Herne, wie in anderen Städten des Reviers, bewohnen übrigens die Ausländer heute dieselben Wohnungen, in denen schon um die Jahrhundertwende die polnisch sprechenden Zuwanderer einzogen. Allerdings war damals der Bevölkerungsanteil der damaligen fremdsprachigen Zuwanderer erheblich höher als der der heutigen ausländischen Arbeiter. In den Bergwerken des Ruhrgebietes ist der Ausländeranteil unter den Untertagearbeitern heute immer noch erheblich hoher als in anderen Industriezweigen.

Charakteristisch für das damalige Zuwandererproblern war in Herne die Schulsituation. Da hauptsächlich junge Familien aus ländlichen Gegenden zuwanderten, waren die Geburtenzahlen und die Zahl der schulpflichtigen Kinder enorm hoch. Die Schulen wurden bis 1906 nach Allgemeinen Preußischen Landrecht von den wirtschaftlich selbstständigen Personen des Ortes und anschließend aus Gemeindesteuern finanziert und waren konfessionell getrennt. [3] Den steigenden Schülerzahlen stand keine entsprechende Steigerung der Steuereinnahme der Gemeinde gegenüber, so dass die materielle und personelle Situation der Schulen als katastrophal zu bezeichnen war. [4] Erst durch Initiativen des Herner Magistrats, der eine Petition von 63 Ruhrgebietsorten anführte, die eine drastische Erhöhung des Staatszuschusses für das Schulwesen forderte [5], wurden die staatlichen Behörden aufmerksam. Erfolg hatte diese Initiative erst nach dem ersten Weltkrieg.

Neben diesem finanziellen kam ein konfessionelles Problem hinzu. Die Mehrzahl der Zuwandererkinder stammte aus katholischen polnisch sprechenden Familien, -1869 gab es 1512 1908 bereits 5.062 katholische Schüler. [6]

Das Unterrichtsprinzip in den Klassen mit Überwiegend polnisch sprechenden Schülern bestand in einer rücksichtslosen Germanisierung. [7]

Die ursprünglich rein evangelische Gemeinde Herne hatte bis 1859 nur eine katholische Schule in Form einer Baracke. Die katholische Kirchengemeinde war noch weniger als die evangelische in der Lage, die Schulkosten zu decken. 1886 gab es eine Klassenstarke von 92 Schülern [8] Nur mit Hilfe von Sonderfinanzierung des Erzbischofs von Paderborn und einer Hauskollekte in großen Teilen Westfalens konnten minimale Betrage zur Schulunterhaltung aufgebracht werden. [9]

Der Autor der Quelle, der mit diesen Verhältnissen als Amtmann, Bürgermeister und. Oberbürgermeister direkt beschäftigt war, erwähnt sie in der Festschrift mit keinem Wort. Diese Tatsache ist allerdings nicht ungewöhnlich. Besonders über die Spannungen zwischen Einheimischen und. Zugewanderten erfährt man in den meisten Festschriften und Stadtgeschichten, die oft von lokalpatriotisch orientierten Lehrern oder Stadtverwaltungs- bzw. Ratsmitgliedern geschrieben wurden, nur wenig oder gar nichts. [10]

In Herne besuchten im Jahre 1905 2216 der Einwohner die Volksschule. [11] Ein typischer Prozentsatz für die jungen Industriestädte des Ruhrgebietes. In Schöneberg und. Wilmersdorf waren es im gleichen Jahr nur 8,3 bzw. 7,1 %.[12] (Eine weitere typische Erscheinung für die wachsenden Industriestädte des Ruhrgebiets der damaligen Zeit war der Männerüberschuss. Er wurde durch den Zuzug meist junger Männer ohne Familien oder das Verbleiben der Familie am Herkunftsort verursacht.1871 kamen im Landkreis Bochum, zu dem Herne bis 1906 gehörte, 127,4 Männer auf 100 Frauen. [13] Im Reich insgesam betrug das Verhältnis 96,4 : 100. [14]

Im Laufe der Jahre sank zwar der Männeranteil (1885 118:100, 1895 116:100 im Landkreis Bochum [15]), war aber noch erheblich höher als der Reichsdurchschnitt, der in etwa konstant blieb. [16] In Herne stieg dieser Anteil 1885 119:100 bis 1895 120:100 sogar im gleichen Zeitraum an. Diese Zahlen machen deutlich, dass sich gerade zu dieser Zeit Herne in seiner sprunghaftesten Entwicklung, bedingt durch den schnellen Ausbau dem Bergbaus, befand. Horst bezeichnet die Gebiete in dieser Epoche als "Kolonialland" [17] "Alte Kulturländer haben Frauenüberschüsse, junge Kolonialländer Männer Überschüsse. In solchem Sinne ist das Ruhrgebiet Kolonialland." [18] Vergleicht man die Verhältniszahlen zwischen Frauen und Männern sämtlicher Ruhrgebietskreise und Städte, so zeigt sich, dass der Männerüberschuss immer dann besonders groß war, wenn in den jeweiligen Orten große Zechen neu mit der Förderung begannen bzw. die Zahl der Fabrikbeschäftigten stark wuchs.

In Herne war das um 1890 der Fall. In Bochum und Essen (Landkreis) dagegen bereits 1871, in Gelsenkirchen 1885 und in Recklinghausen erst nach 1895. [19] Nach der ‚Jahrhundertwende ging dieses Verhältnis deutlich zurück und betrug in Herne 1910 noch 110:100. In der damals schon weiter entwickelten Stadt Dortmund betrug es im gleichen Jahr nur noch 102:100. [20] (Deutsches Reich 97,4:100 [21])

Schaefer beklagt in der vorliegenden Quelle die große Fluktuation der Bevölkerung, die für den gesamten Ruhrgebietsraum und alle großen Industriestädte typisch ist. [22] In Berichten der Industrie- und. Handelskammer Bochum, die für das Herner Gebiet zuständig war, wird erwähnt, dass die meisten Arbeitsplatz- und damit auch meist Ortswechsler jüngere unverheiratete Arbeiter waren, was durch amtliche Statistiken erhärtet wird [23]. Grund war die Hoffnung auf einen besseren Arbeitsplatz und höhere Löhne. [24] Meist waren es ungelernte und angelernte Bergleute und Fabrikarbeiter. [25] Die Klage Schaefers über die erhebliche Erschwernis der städtischen Verwaltung ist bei der hohen Fluktuation verständlich.


Fortsetzung ...

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  1. Croon,H. u. Utermann,K. beschreiben in ihrem Buch Zeche und Gemeinde, Tübingen 1958 diesen Prozeß am Beispiel einer typischen Gemeinde im nördlichen Ruhrgebiet (wahrscheinlich Waltrop, Name im Buch nicht genannt).
  2. Croon,H. ‚ Städtewandlung und Städtebildung im Ruhrgebiet im 19. Jahrhundert, S.495/496
  3. Reulecke, J. ‚ a.a.O., S. 250/51
  4. ebenda, S. 251 - 257
  5. ebenda, S. 262 - 265
  6. ebenda, S. 253
  7. Sehr aufschlussreich hierzu die Untersuchung von Manfred Heinemann, Die Assimilation fremdsprachiger Schulkinder durch die Volksschule in Preußen seit 1880.
  8. Reulecke, J. ‚ a.a.O. ‚ S. 254
  9. ebenda, S. 254/255
  10. Croon, H. ‚ Die Einwirkung der Industrialisierung auf die gesellschaftliche Schichtung der Bevölkerung im rheinisch-westfälischen Industriegebiet ‚ S. 301
  11. Perker (Stadtrat in Hagen/Westf.), Steuerbelastung und Volksschulwesen in den Industriestädten, S.833-835
  12. ebenda
  13. Horst, Willy: Studien über die Zusammenhänge zwischen Bevölkerungsbewegung und Industrieentwicklung im niederrheinisch-westfälischen Industriegebiet, 1937 ‚ S.36
  14. ebenda, S.45
  15. ebenda, S.48
  16. ebenda, S.45
  17. ebenda, S-33-34. H. zit. hier Most, Konjukt. Bedingtheit der Kommunalfinanzen im Ruhrgebiet, In: Deutsche Bergwerkszeitung Nr. 69, 36. Jg 22.3.1935
  18. ebenda
  19. Horst, W. ‚ a.a.0.‚ S.50
  20. ebenda, S.62
  21. ebenda, S.59
  22. Crew, David: Regionale Mobilität und Arbeiterklasse, Das Beispiel Bochum 1880-1901, S.103
  23. ebenda, S.103
  24. ebenda, S.104
  25. ebenda, S.109