Ripp (1980) 2

Aus Hist. Verein Herne / Wanne-Eickel

QUELLENARBEIT

ehem.
Pädagogische Hochschule Berlin ‚ Historisches Seminar

H E R N E - DIE ENTSTEHUNG EINER RUHRGEBIETSSTADT
Der Einfluss von Bergbau und Industrie auf die Entwicklung der Stadt Herne - anhand einer Festschrift zur Einweihung des Rathauses 1912

von Winfried Ripp


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2. Der wirtschaftliche und historische Kontext von Fragestellung und Quelle

2.1. Einige Anmerkungen zur wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland von 1870 bis zum ersten Weltkrieg

Die Reichsgründung 1871 bedeutete keinen konjunkturellen Einschnitt in die Aufschwungphase der Wirtschaft von 1869 bis 1873, in die die Anfangszeit der Betrachtungen der mir vorliegenden Quelle fällt. Die französischen Kriegsentschädigungen und der territoriale Gewinn von Elsaß-Lothringen mit seinen Eisenerzvorkommen begünstigten diesen Aufschwung in Zusammenhang mit neueingeführten Liberalisierungen des Wirtschaftsverkehrs (z.B. Erleichterung der Bildung von Aktiengesellschaften).[1] Die erste Phase der industriellen Revolution mit der Einführung neuer mechanisierter Produktionsverfahren war zu dieser Zeit in etwa abgeschlossen.[2] Im Ruhrgebiet waren die technologischen Voraussetzungen für bergbauliche Großbetriebe und Massenproduktion von Kohle und Stahl als Grundlage einer sich entwickelnden Großindustrie geschaffen. Die Reichsgründung erweiterte durch die Aufhebung aller innerdeutschen Zollschranken die Absatz- und Rohstoffbasis der Industrie.

In der Zeit von 1874 -‚ 1879 stagnierte die Produktion und stieg in den folgenden Jahren mit einigen Unterbrechungen nur geringfügig. Kennzeichnend war das sinkende Preisniveau. Besonders Kohle und Roheisenpreise waren betroffen.[3]

Die damit einhergehenden Firmenzusammenbrüche führten zu einer bis dahin unbekannten Konzentration von Wirtschaftsunternehmen, Kartellabsprachen und Rationalisierungsbestrebungen. Man spricht seither von der Phase des "organisierten Kapitalismus"[4]. Eines seiner Kennzeichen ist auch die verstärkte Intervention des Staates in die Wirtschaft z.B. durch Steuer-und Zollpolitik.

Mit Hilfe von Schutzzöllen, die auf gemeinsames Betreiben der ostelbischen Großgrundbesitzer und der Schwerindustrie zustande kamen, sollte die deutsche Wirtschaft vor ausländischer Konkurrenz geschützt werden.

In den Jahren von 1895 bis zum ersten Weltkrieg stand die Entwicklung neuer Industriezweige wie Elektroindustrie und Chemie im Vordergrund, nachdem der bis dahin als Motor der wirtschaftlichen Entwicklung fungierende Eisenbahnbau zu einem gewissen Abschluss gekommen war.

Die Kapitalkonzentration vor allem in der Schwerindustrie, aber auch im Bankbereich, schritt weiter voran.[5] Aufschwung und Krise (1907-09) wechselten sich ab.

In den letzten Jahren vor dem ersten Weltkrieg stand der Flottenbau und die sonstige Rüstungsindustrie im Vordergrund. Auch hier wurde die Vermehrung Schwerindustrieller Kapazitäten wichtig, die eine Expansion der Ruhrindustrie zur Folge hatte.

2.2. Entwicklung des Ruhrgebiets - insbesondere der Emscherzone

Herne liegt in der Mitte der Emscherzone.

Man teilt das Ruhrgebiet nach seinen historischen und wirtschaftlichen Entwicklungsstufen in vier Zonen ein. Der Bergbau und die .nachfolgende Industrie gingen vom Ruhrtal aus. Dort waren anfangs nur kleine Zechen mit niedrigen Förderquoten und primitivem Stollenbau vorhanden. Diese waren nur auf eine bescheidene Stufe der Industrialisierung ausgerichtet. Erst mit der Entwicklung der Bergbautechnik, die die Möglichkeit des Schachtbaus und somit das Erreichen tieferer Kohlenflöze erschloss, wanderte der Bergbau nach Norden. Zuerst in Bereich der alten Handelsstraße Hellweg, an der einige kleine aber traditionsreiche Städte wie Duisburg, Mülheim, Essen und Dortmund liegen. Hier gab es schon eine kleine Gruppe alteingesessener Bürger, die zusammen mit neu hinzuziehenden Spezialisten und Unternehmern den Bergbau, die Eisenindustrie und verschiedene Zuliefererbetriebe rasch entwickelten.

Die Aufhebung staatlicher Beschränkungen des Bergbaus ("Direktionsprinzip")[6] im Jahre 1865 und die Erleichterung der Bildung von Aktiengesellschaften beschleunigten diese Entwicklung.

Die Hellwegzone wurde mehr und mehr zum urbanen, wirtschaftlichen und kulturellen Zentrum des Reviers.

Ab Ende der fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts wanderte der Bergbau in die Emscherzone. Die Größe der Betriebe wuchs enorm. Das machte den Zuzug vieler neuer Arbeitskräfte nötig. Waren zu Beginn der Bergbauentwicklung überwiegend Menschen aus den nähergelegenen Gebieten, den Provinzen Westfalen, Rheinland und Hessen ins Revier gezogen, setzte jetzt eine Fernwanderung insbesondere aus den preußischen Ostprovinzen ein. Viele dieser Einwanderer sprachen nur polnisch. Sie bildeten einen großen Teil der neuen Bevölkerung der expandierenden Emscherzone. Die ortsansässige westfälische bäuerliche Bevölkerung trat immer mehr in den Hintergrund. Auch die Leitung der neu entstandenen Großbetriebe des Bergbaus und der Eisenindustrie lag in den Händen auswärtiger Unternehmer und Angestellter.

Die Gemeinden entwickelten sich sprunghaft von Dörfern zu Städten. „So sind als Resultat solch unorganischen Wachstums manche Städte wie auch Herne, "sozusagen schmächtig geblieben und machen den Eindruck von Knaben, die zu schnell gewachsen sind und denen jeder neue Anzug schon zu klein ist.““[7]

Die städtische Infrastruktur fehlte und musste zum Teil überstürzt geschaffen werden. „So erscheint der ganze Mittelstreifen des Ruhrgebiets wie eine einzige zerrissene und durchlöcherte, überall unfertige Riesenstadt, von der schon in den 1880er Jahren, als alles im Aufbau war, Kaiser Wilhelm I. meinte, dass man sich einer Weltstadt zu nähern glaubt, ohne jedoch auf sie zu treffen."[8]

Diese rasche Umwälzung ging nicht ohne Brüche vonstatten. Brepohl bezeichnet den Emscherraum als "das Krisen- und Problemgebiet in reinster Form."[9] "Die soziologischen Probleme in Arbeit und, Gemeinwesen machen das Spezifische dieser Zone aus."[10]Die Emscher [...] an der die hohe Schule für alle Sozialprobleme (im weitesten Sinne) stehen könnte. "[11]

Bis zum ersten Weltkrieg war der industrielle und verkehrsmäßige Ausbau dieser Zone weitgehend abgeschlossen. Seit Ende des 19. Jahrhunderts wanderte der Bergbau verstärkt in die Zone zwischen Emscher und Lippe, das Vest. Die beschleunigte Entwicklung dieses Raumes ähnlich wie die der Emscherzone begann damit.


Fortsetzung ...

Dieser Text wurde von Winfried Ripp für das Wiki der Herner Stadtgeschichte zur Verfügung gestellt und unterliegt dem Urheberrecht. Bei einer Verwendung dieses Textes - auch als Zitat - außerhalb des Wikis der Herner Stadtgeschichte ist die Genehmigung des Autors einzuholen.
  1. Mottek, Hans u.a.: Wirtschaftsgeschichte Deutschlands III. Bd. -3 1977 ‚ S. 155
  2. Hardach, Gerd. : Deutschland in der Weltwirtschaft 1870-1970 ‚ S. 32
  3. Mottek, H. ‚ a.a.O., S. 163
  4. Hardach, G., a.a.O.‚ S. 35/36
  5. Mottek, H.‚ a.a.0.‚ S. 182/183
  6. Spethmann, Hans: Das Ruhrgebiet, 2.Bd. 1933, S.295-298
  7. Sieburg, Heinz Otto : Der Aufstieg Hernes vom Dorf zur Stadt 1847-1914‚ S. 109/110 ; Sieburg zitiert hier Brepohl, Wilhelm: Der Aufbau des Ruhrvolks im Zuge der Ost-West-Wanderung, Recklinghausen 1948, S. 80
  8. Sieburg, H.O. ‚ a.a.O. ‚ S. 109/110
  9. Brepohl, Wilhelm: Industrievolk im Wandel von der Agraren zur industriellen Daseinsform, dargestellt am Ruhrgebiet, 1957 ‚ S.18
  10. ebenda, S.17
  11. ebenda